Assad ist gefallen. Auf anfängliche Freude der unterdrückten Massen folgt nun Unsicherheit und Angst. Die verschiedensten Mächte reiben sich die Hände. Sie reden von „Neuanfang“, während sie gleichzeitig Syrien weiter in die Barbarei stürzen.
Die verschiedensten Diplomanten aller Länder und Vertreter von Organisationen hofieren den neuen de-facto Machthaber Ahmed al-Sharaa von der Haiat Tahrir al-Scham (HTS). Deutschland ist ganz vorne dabei. Endlich können sie ihre „Demokratie“ exportieren – d.h. endlich sind sie an der Reihe, auf dem Rücken der syrischen Massen fette Profite einzuheimsen.
Vor 2011 war die EU mit 6 Mrd. Euro der wichtigste Handelspartner des Landes. Ein Drittel davon machte der Handel mit Deutschland aus. Letztes Jahr waren es nur rund 35 Mio. Euro. Laut Außenhandelschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Volker Treier, exportierte Deutschland damals hauptsächlich Maschinen, Fahrzeuge und chemische Erzeugnisse. Siemens war einer der wichtigsten Lieferanten für Energietechnik. Im Gegenzug bekam Deutschland begehrtes Rohöl und landwirtschaftliche Produkte.
Um ihren Willen durchzusetzen, nutzen die Vertreter der EU ein altbewährtes Mittel: Zuckerbrot und Peitsche. Sie versprechen humanitäre Hilfe und wirtschaftliche Kooperation beim Wiederaufbau, während sie seit 14 Jahren Sanktionen erheben, die sie erst vollständig aufheben wollen, wenn die neue Regierung ihren guten Willen beweist. Noch ist die regierende HTS-Miliz auf der Terrorliste der EU, auch wenn man sich bemüht, von ihrer dunklen Vergangenheit und ihrer Verbindung zu al-Qaida abzulenken.
Währenddessen ist in Deutschland bereits eine „Abschiebe-Debatte“ in vollem Gange. Kürzlich schlug Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „einmalige Erkundungsreisen“ vor, um den rund eine Mio. in Deutschland lebenden Syrern Anreize zur Rückkehr zu geben. Zuletzt kam die Meldung, dass Syrer nun eine „Starthilfe“ von 1.700 Euro und Flugtickets bekommen sollen, selbstverständlich One-Way.
Imperialisten provozieren Instabilität
Die Hoffnung der EU-Staaten, in Syrien größere Kontrolle auszuüben, ist groß. Doch die Realität ist komplizierter. Syrien bleibt Streitobjekt verschiedener Imperialisten, die Machteinfluss im Nahen Osten gewinnen bzw. halten möchten. Dies zeigt sich an der ablehnenden Haltung gegenüber der Forderung von Berlin und der EU, die russischen Basen im Land zu schließen. Al-Sharaa erklärte, dass man gute Beziehungen „mit dem zweitmächtigsten Land der Welt“ aufrechterhalten will.
Ebenso sieht der syrische Außenminister Asaad al-Schaibani keine Notwendigkeit für eine rasche Rückkehr syrischer Geflüchteter aus Deutschland, wo sie sicher seien. Sicherlich muss er schon die rund drei Mio. Syrer bedenken, von denen Erdoğan sich trennen möchte, um innenpolitische Konflikte zu beruhigen. Insbesondere die Türkei hat großen Einfluss gewonnen, weil sie die HTS unterstützt hat und darüber hinaus eine eigene Miliz vor Ort hat.
All die Schönrederei im Westen kann die instabile Lage vor Ort nicht beseitigen. Statt einer starken Zentralregierung gibt es mehrere Machtzonen. Israel hat sich einen Landstrich im Süden gesichert und durch Luftschläge auf Militärobjekte einen möglichen neuen Staat kastriert. Kurdische Milizen werden gleichzeitig von der Türkei angegriffen. Der Islamische Staat (IS) droht durch das Machtvakuum nach Assads Fall wieder gestärkt zu werden. Die Drusen-Milizen sind misstrauisch und zögern ihre Waffen abzugehen. Ein Drusen-Führer forderte sogar die Annexion durch Israel.
Unter großen Teilen der Bevölkerung herrscht Skepsis bezüglich der guten Absichten der HTS. Die Alawiten, aus deren Reihen Assads Staatsapparat viele Führung- und Sicherheitskräfte rekrutierte, befürchten Vergeltungsschläge. Auch die christliche Minderheit schaut besorgt auf die islamistische Regierung. Berichte aus der seit etwa 2017 von der HTS kontrollierten Region Idlib schildern überfüllte Gefängnisse und Folter. Tausende demonstrierten in der Region letztes Jahr monatelange gegen den HTS-Anführer.
Die Heuchelei der westlichen Imperialisten ist abartig. In Worten hoffen sie nun darauf, dass sich die Lage vor Ort zu ihren Gunsten beruhigt. In Taten sind sie es, die den Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 immer wieder blutig befeuert haben. Immer wieder haben sie den Kampf der Massen für ihre Befreiung sabotiert. In dieser Barbarei sind mindestens 500.000 Menschen getötet worden. Rund sieben Mio. Menschen sind geflohen. Die Imperialisten sind bereit Weitere zu opfern, um den Nahen Osten zu kontrollieren und sich ein Stück vom Profitkuchen zu sichern.
Gekaperter Arabischer Frühling
Der Arabische Frühling 2011 traf in Syrien auf fruchtbaren Boden. Die Liberalisierung der ehemaligen staatliche Planwirtschaft ab den 1990ern – die nie unter der Kontrolle der Arbeiterklasse stand – verstärkte die ökonomischen Probleme statt sie zu lösen. Nun kontrollierten private Unternehmen den Markt. Viele davon im Besitz von Assads engsten Vertrauten. Rami Makhlouf, Cousin von Assad und reichster Syrer, kontrolliert Telekommunikation-, Luftfahrt-, Öl-, Bau-, Import- und Immobilienfirmen. Er wurde zum Symbol für die Korruption innerhalb des syrischen Regimes und zur Hassfigur der Massen.
Die soziale Ungleichheit war extrem gestiegen und die Wirtschaft geschwächt. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf halbierte sich beinahe zwischen 1980 und 2010. Gegen 2007 war die Armutsrate auf 34,3% gestiegen und 12,3% der Bevölkerung konnten ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen. Die offizielle Arbeitslosigkeit lag bei rund 10%, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei rund 20%.
Wie in Tunesien und Ägypten erhoben sich die Massen gegen ein unterdrückerisches Regime. Hunderttausende gingen auf die Straße und kämpften. Das Regime reagierte mit brutaler Gewalt. Es gab Tote und Verletzte. Tausende Soldaten desertierten und liefen über. Die Freie Syrische Armee wurde gebildet, eine Art Selbstverteidigung der Bewegung. Aber im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten gab es keine landesweiten Streiks, die Assad zu Fall brachten. Stattdessen wurde sich auf den militärischen Kampf konzentriert.
Das Land war gespalten in verschiedene Ethnien, Religionen und Interessensgruppen. Die Forderung nach „Demokratie“ mobilisierte nicht alle Teile der Bevölkerung, da unklar war, wie die sozialen und ökonomischen Probleme gelöst werden sollten, ohne sie nur auf den Rücken der anderen abzuwälzen. Der barbarische Zustand von Libyen nach dem Fall des Regimes gab ihnen böse Vorahnungen, was kommen könnte. Es fehlte eine revolutionäre Führung, die mit einem klassenbasierten Programm die Brücke zwischen den verschiedenen Schichten schlagen konnte. Dieses Vakuum erlaubte reaktionäre religiöse Elemente in der Bewegung Fuß zu fassen.
Verschiedene globale und regionale Imperialisten wie die USA, Frankreich, GB, Türkei, Katar und Saudi Arabien kaperten die revolutionäre Bewegung für sich und unterstützen die reaktionären Elemente im Namen der „Freiheit“ gezielt mit Waffen und Geld. Der Plan ging jedoch nicht auf. Die Gräueltaten der Dschihadisten schafften Assad eine große Unterstützerbasis. Ebenso konnte Assad aufgrund der ausländischen Einmischung, insbesondere durch den Westen, eine anti-imperialistische Stimmung der syrischen Massen aufgreifen.
Die Intervention von Russland ab 2015 war ein Wendepunkt im Bürgerkrieg. Das Assad-Regime wurde durch die militärische Unterstützung systematisch gestärkt. Auch iranische Kräfte griffen zugunsten Assads ein. Russland und der Iran konnten dadurch ihren Einfluss in der Region stärken und die anderen Imperialisten aussperren. Dies war ein herber Rückschlag, insbesondere für die USA.
Die Gefahr durch den IS war so groß geworden, dass die USA ihre Zöglinge fallen lassen mussten, um nicht völlig den Einfluss in der Region zu verlieren. Die NATO war sogar gezwungen mit Russland zu kooperieren, um den IS zu bekämpfen. In diesem Zuge unterstütze die USA auch kurdische Kräfte wie die YPG (Volksverteidigungseinheiten), sehr zum Missfallen der Türkei. Wie sich aktuell zeigt, waren die Kurden für die USA jedoch nur Mittel zum Zweck.
Der Fall von Assad
Der Bürgerkrieg dauerte weiter an. Der IS wurde zurückgedrängt. In verschiedenen Regionen herrschten unterschiedliche Milizen. Das Assad-Regime schien sich zu stabilisieren und strebte diplomatische Lösungen mit seinen Nachbarn an, insbesondere mit der Türkei gab es mehrfach Annäherungsversuche. Auch Angela Merkel (CDU) zeigte sich 2018 nun offen für Gespräche mit Assad. Noch zuvor hatte die deutsche Regierung öffentlich den Einsatz von Giftgas kritisiert, während Deutsche Unternehmen im Hintergrund die benötigten Chemikalien lieferten. 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen und durchbrach damit weiter die Isolation.
Doch die Lage blieb angespannt. Assad kontrollierte nur rund zwei Drittel des Landes. Über 90% der syrischen Bevölkerung leben in Armut. 2020 hatte der extreme Währungsverfall sowie der massive Anstieg von Lebensmittelpreisen dafür gesorgt, dass rund 7,9 Mio. Menschen unter Hunger litten.
Gleichzeitig war die Erinnerung an den Arabischen Frühling noch präsent. Eine Kooperationspartnerin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Syrien beschreibt: „Die syrische Revolution ist eine Revolution der Wahrheit, und die Wahrheit stirbt nie.“ Die Wahrheit ist, dass die Massen weiter unterdrückt wurden und dies musste zwangsläufig irgendwann zum Fall des Regimes führen.
Die HTS-Offensive im Dezember war nur noch der letzte Stoß, der das Kartenhaus zusammenbrechen ließ. Plünderei und Korruption in der Armee hatten extreme Ausmaße angenommen. Niemand glaubte an einen Sieg und wollte sein Leben dafür opfern. Hier zeigte sich die extreme Fäulnis des Regimes.
Sozialistische Föderation im Nahen Osten
Die westlichen Imperialisten nutzen erneut die Gunst der Stunde. Das geht nur, weil den Massen keine Alternative geboten wird. Somit wiederholt sich in bestimmten Aspekten die Tragödie ab 2011. Unter Anleitung einer revolutionären Führung könnten die syrischen Massen die Ausbeutung insgesamt abschaffen – statt nur die Blutsauger auszuwechseln. Dies hieße für eine sozialistische Föderation im Nahen Osten zu kämpfen.
Der Arabische Frühling hat viele Beispiele gezeigt, wo die Massen ihr Leben selbst in die Hand nahmen. Auch der jahrzehntelange Kampf der kurdischen Bewegung sowie ihre autonomen Gebiete sind für viele Menschen im Nahen Osten und weltweit ein Vorbild. Sie wagen es, den mächtigen türkischen Staat herauszufordern. Sie schreiben sich Frauenbefreiung, Demokratie und Ökologie auf die Fahne. Sie gehören zu den mutigsten Kämpfern gegen den IS.
Heute wird die kurdische Bewegung in Syrien von allen Seiten bedroht. Sie appelliert an die Regierungen der Welt, insbesondere der USA, sie zu unterstützen und gibt sich gemäßigt. Dabei gibt es nur eine Kraft, auf die sich verlassen kann: die internationale Arbeiterklasse.
Nur ein sozialistisches Programm, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln herausfordert und die Interessen der Eigentumslosen und Unterdrückten vertritt, kann die Arbeiterklasse und Armen vereinen und somit die Grundlage sein für Frieden in der Region. Die HTS wird Syrien weder Frieden noch Wohlstand bringen. Die Imperialisten können den Nahen Osten nur unterjochen, indem sie die Massen in verschiedene Ethnien, Nationalitäten und Religionen spalten. Das machen sie sich auch heute zu nutzen, um Syrien nach Assad ihren Willen aufzuzwingen. Die blutigen Nebenprodukte nehmen sie bereitwillig in Kauf.
Wenn die kurdische Bewegung einen Appell an die Armen und die Arbeiterklasse in Syrien, in der Türkei, in Iran und Irak richten würden, würden ihnen Millionen folgen und die kurdische Bewegung aus ihrer Isolation katapultieren. Erdoğan ist sich dessen bewusst und sieht sie deswegen als Todfeind. Solch eine Bewegung könnte die instabilen Regimes der Region stürzen, die Imperialisten aus der Region fortjagen und ein Leuchtfeuer für die Weltrevolution sein. Die objektiven Bedingungen sind reif, es fehlt nur an einer revolutionären marxistischen Führung.