Die 68er-Bewegungen in Frankreich, Italien, Tschechien, den USA und Deutschland gingen in die Geschichte ein. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg, der von vielen Akademikern als das Ende der Arbeiterbewegung gedeutet wurde, signalisierten die Jugendproteste einen neuen Aufschwung der Klassenkämpfe. Ende 1968 schlossen sich in Deutschland als erster Teil der Arbeiterklasse die jungen Arbeiter den Protesten an.
Im September 1968 fand in Hamburg eine Freisprechungsfeier für 3.000 Lehrlinge aus kaufmännischen und gewerblichen Ausbildungsbetrieben statt. Doch drei Lehrlinge des Maschinenbauunternehmens Heidenreich & Harbeck hatten andere Pläne. Plötzlich regnete es Flugblätter auf die Teilnehmer und Gäste.
Studenten und Lehrlinge kämpfen gemeinsam
Diese Lehrlinge, inspiriert von den Studentenprotesten, hatten sich auf eigene Initiative an die Studenten gewandt und um Unterstützung gebeten. Gemeinsam gestalteten sie die Flugblätter und organisierten die Protestaktion. In den Flugblättern prangerten sie die schlechten Ausbildungsbedingungen junger Arbeiter an und forderten Verbesserungen.
In den Ausbildungsbetrieben herrschten zahlreiche Missstände. Lehrlinge wurden oft als billige Arbeitskräfte eingesetzt und mussten erniedrigende Aufgaben erledigen wie Bierholen, Fegen und andere Routine- oder Schikanearbeiten.
Nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die eingeschränkten persönlichen Rechte der Lehrlinge wurden angeprangert. Erik Merks, damals Lehrling beim Werftbetrieb Blohm und Voss, berichtete:
„Da der Erziehungsgedanke in der Ausbildung eine wesentliche Rolle spielte, waren persönlicher Rechte des Lehrlings eingeschränkt oder wurden außer Kraft gesetzt. Die Kleidung musste der damaligen Zeit entsprechend ordentlich und korrekt sein, die Haarlänge durfte Streichholzlänge nicht überschreiten. Das Rauchen war dem Lehrling selbstverständlich verboten. Widerspruch oder gar Diskussionen wurden nicht geduldet. Minderwertige und Hilfstätigkeiten wurden grundsätzlich Lehrlingen übertragen.
‚Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘, diesen gängigen Spruch hörten wir mehrmals täglich. Wir wollten keine Herren sein, lediglich als gleichwertige Menschen gesehen und behandelt werden.“
Nach der Protestaktion im September folgten weitere. Kurz darauf gründeten gewerkschaftlich orientierte Jugendliche in Hamburg die „Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung“. Am 6. November fand die erste selbständige Lehrlingsdemonstration statt, bei der mehr als 1.000 Teilnehmer durch die Hamburger Innenstadt zogen. Bald darauf kam es auch in anderen westdeutschen Städten zu Demonstrationen und Protestaktionen.
Vielerorts entstanden Lehrlingszentren, in denen über weitere Forderungen und Aktionen diskutiert wurde. Auch hier machten die Hamburger Lehrlinge den Anfang. Ein „Jour Fixe für gewerkschaftliche Jugendarbeit“ bildete sich dort – eigentlich als Versuch der Gewerkschaften, die Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken. Der Jour Fixe traf sich wöchentlich im DGB-Gewerkschaftshaus, um die Situation der Lehrlinge zu besprechen, Aktionen zu planen und über politische Themen zu diskutieren.
Hamburg blieb das Zentrum und die Inspiration für die Lehrlingsbewegung. Zum 1. Mai 1969 riefen dort Lehrlinge und Studenten gemeinsam dazu auf, die DGB-Demonstration zu stören. 3.000 Studenten und junge Arbeiter folgten dem Aufruf.
Die Lehrlingsbewegung setzte sich aktiv für eine Reform der Berufsausbildung ein. Sie kritisierten aber ebenfalls die mangelnde Demokratie und Struktur dafür innerhalb der Gewerkschaften. In den 1960er Jahren erhielten Auszubildende zwar bereits Tarifverträge, doch wurden die Tarifverhandlungen nicht synchron mit denen der Facharbeiter geführt, was ihre Kampfkraft schwächte. Die Lehrlinge forderten daher ein Mitbestimmungsrecht und ein Jugendprogramm innerhalb der Gewerkschaften.
Der 1. Mai brachte der Lehrlingsbewegung größere Aufmerksamkeit und veranlasste den DGB, Maßnahmen zu ergreifen. Der Kreisvorstand verabschiedete im August 1969 ein jugendpolitisches Sofortprogramm, das vom Bundesjugendausschuss begrüßt wurde.
Berufsbildungsgesetz – Ziel erreicht?
Noch im Mai wurde ein bisher geheimer Entwurf der Bundesregierung für ein Berufsbildungsgesetz öffentlich bekannt. Weder die Lehrlinge noch die Gewerkschaften waren mit diesem Entwurf zufrieden. In Reaktion darauf mobilisierte der DGB zu einer Großkundgebung in Köln, an der Zehntausende teilnahmen.
Auch bei dieser Kundgebung standen die Lehrlinge den Gewerkschaften kritisch gegenüber, da die Gewerkschaftsführung zuvor geplante Aktionen der Lehrlinge blockiert hatte. Dennoch stellte die Großkundgebung die größte Aktion während der Lehrlingsbewegung dar. Ungeachtet der Proteste trat das Gesetz allerdings trotzdem in Kraft.
In den folgenden Jahren blieb die Forderung nach einem neuen Berufsbildungsgesetz. 1975 erhob sich die Lehrlingsbewegung noch ein letztes Mal. Im November demonstrierten in Dortmund Zehntausende für ein besseres Berufsbildungsgesetz. Die SPD passte ihr Gesetz den Forderungen von Gewerkschaften und Lehrlingsbewegung an. Der Bundestag verabschiedete im April 1976 tatsächlich eine Neufassung des Gesetzes. Allerdings wies es der Bundesrat einen Monat später zurück.
Die Lehrlingsproteste zielten darauf ab, die Strukturen der Ausbildungsbetriebe zu demokratisieren. Dadurch wuchs das Selbstbewusstsein der jungen Arbeiter erheblich, und eine große Schicht von ihnen politisierte sich.
In den ersten Jahren profitierten die DGB-Gewerkschaften davon, da viele junge Arbeiter neu eintraten. Diese Entwicklung war jedoch nicht von Dauer. Die Führung der Gewerkschaften versuchte wiederholt, die Radikalisierung der Lehrlinge zu stoppen, um die Kontrolle über die Klassenkämpfe nicht zu verlieren. Viele Aktivisten der Lehrlingsbewegung schlossen sich radikaleren Alternativen an – autonomen, stalinistischen oder K-Gruppen.
Diese Gruppen versuchten zwar teilweise, einen Kampf in den Gewerkschaften zu führen, konnten aber kein positives Programm für die Arbeiterbewegung aufzeigen. Letztlich führte das dazu, dass die Lehrlingsbewegung abebbte. Gefehlt hatte eine kommunistische Partei, welche stark genug war, die kämpfenden Schichten um eine revolutionäre Alternative zu versammeln und so innerhalb der Gewerkschaften deren bremsende Führung herauszufordern.