Am Wochenende haben die Israelischen Streitkräfte (IDF) die Leichen von sechs Geiseln geborgen, die von der Hamas im Gazastreifen festgehalten wurden. Daraufhin explodierte die Wut der Bevölkerung, die sich gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu richtet.
Hunderttausende nahmen am Sonntag in ganz Israel an Massendemonstrationen teil. Am Montag (2. September) legte ein Generalstreik, zu dem die Histadrut (der Dachverband der Gewerkschaften Israels) aufgerufen hatte, das ganze Land lahm.
Die Demonstranten machen Netanjahu für den Tod der Geiseln verantwortlich, da er die Verhandlungen mit der Hamas fortlaufend sabotiert. Dabei handelt es sich um eine sehr ernste politische Krise, die zur Absetzung des israelischen Premierministers führen könnte.
Am Samstag (31. August) fanden die IDF die Leichen von sechs Geiseln (Hersh Goldberg-Polin, Eden Yerushalmi, Ori Danino, Alexander Lobanov, Carmel Gat und Almog Sarussi), die während des Überraschungsangriffs am 7. Oktober 2023 entführt und von der Hamas in einem Tunnel in Rafah festgehalten worden waren.
Es wurde bereits festgehalten, dass alle von ihnen 48 bis 72 Stunden zuvor noch am Leben waren. Israelischen Quellen zu Folge wurde auf alle Personen mehrmals aus kurzer Entfernung geschossen, was darauf hindeutet, dass sie hingerichtet wurden, als sich die IDF-Truppen ihrem Aufenthaltsort näherten. Es gibt Spekulationen, dass die Rettung einer anderen Geisel, Farhan al-Qadi, durch die IDF in der vergangenen Woche die israelischen Sicherheitskräfte zum Aufenthaltsort der anderen sechs Geiseln geführt haben könnte.
Der ranghohe Hamas-Führer und Chefverhandler Khalil al-Hayya hat die israelischen Behauptungen, die Geiseln seien hingerichtet worden, bestritten, da „einige dieser Gefangenen direkt von den israelischen Streitkräften getötet wurden, entweder durch Luftangriffe oder durch scharfes Feuer“.
In einer Erklärung an Al Jazeera zu den ins Stocken geratenen Verhandlungen erklärte al-Hayya Folgendes:
„Netanjahus Antwort auf unsere Zustimmung zu dem von Biden vorgelegten Dokument war ausweichend, gefolgt von der Forderung mehrerer neuer Bedingungen. Netanjahu bestand darauf, die Korridore Philadelphi und Netzarim zu halten und weigerte sich, unsere älteren Gefangenen, die lebenslange Haftstrafen verbüßen, freizulassen. Wir sind nicht daran interessiert, über die neuen Bedingungen Netanjahus zu verhandeln. Die Bewegung beschließt, keinen Kompromiss zum Vorschlag vom 2. Juli [Bidens Vorschlag für Friedensbedingungen] einzugehen.“
Netanjahu ist schuld
Für die Familien der Geiseln und einen großen Teil der israelischen Öffentlichkeit sind die genauen Einzelheiten des Todes der Geiseln nicht von Bedeutung. Ihre Angehörigen waren noch vor wenigen Tagen am Leben und sind nun tot. Sie machen Netanjahu für diese Todesfälle verantwortlich, weil er bei den Verhandlungen mit der Hamas ständig die Forderungen verändert. Sie sind der festen Überzeugung, dass er dies nur tut, um an der Macht zu bleiben. Diese Stimmung hat zu dem beispiellosen Entrüstungssturm gegen den Premierminister geführt.
In Israel wusste eigentlich jeder, dass Netanjahus rücksichtsloses Handeln zur Hinrichtung von Geiseln führen könnte. Militär- und Sicherheitsexperten hatten ihn wiederholt darauf hingewiesen, zuletzt bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts am vergangenen Donnerstag (29. August). Netanjahu kam zu der Kabinettssitzung mit einem weiteren „Vorschlag“, um die Forderungen für die Verhandlungen eines Geiseldeals erneut zu verändern, wie er es schon seit Monaten immer wieder getan hat. Diesmal war es die Forderung, dass die IDF die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor, den schmalen Landstreifen zwischen dem Gazastreifen und der ägyptischen Grenze, während des Waffenstillstands für den Geiselaustausch behalten sollten.
Medienberichten zufolge führte dieser Vorschlag zu einem Streit mit Verteidigungsminister Yoav Gallant von Netanjahus eigener Likud-Partei. Gallant widersprach Netanjahus Behauptung, dass die Karten, die die Kontrolle der IDF über den Philadelphi-Korridor zeigten, vom Militär und den USA abgesegnet wurden. Er warf Netanjahu vor, die Armee mit unlauteren Mitteln zu dieser Zustimmung gebracht zu haben.
Axios berichtet, dass „Netanjahu an diesem Punkt wütend wurde, mit der Hand auf den Tisch schlug, Gallant der Lüge bezichtigte und ankündigte, er werde die Pläne sofort zur Abstimmung im Kabinett bringen“.
Die Antwort von Gallant ist es wert, ausführlich zu zitieren:
„Als Premierminister sind Sie befugt, jede Entscheidung, die sie für richtig erachten, zur Abstimmung zu bringen – einschließlich der Hinrichtung der Geiseln“ (unsere Hervorhebung)
Laut demselben Axios-Bericht erklärte der Verteidigungsminister dem Kabinett, dass die Annahme der Resolution dem Hamas-Führer Yahya Sinwar mehr Druckmittel bei den Verhandlungen verschaffen würde:
„Wir müssen uns zwischen Philadelphi und den Geiseln entscheiden. Wir können nicht beides haben. Wenn wir uns für die Resolution entscheiden, könnte sich herausstellen, dass entweder die Geiseln sterben oder wir einen Rückzieher machen müssen, um sie freizulassen“ (unsere Hervorhebung).
Es ist wichtig zu betonen, dass Verteidigungsminister Gallant kein friedliebender Verfechter der Rechte der Palästinenser ist. Ganz im Gegenteil: Seine Argumentation in der Kabinettssitzung folgt der Verteidigung der nationalen Sicherheitsinteressen Israels.
Laut Axios sagte Gallant, dass ein Abkommen „die regionalen Spannungen mit dem Iran und der Hisbollah verringern“ würde, was es den IDF ermöglichen würde, „sich neu zu formieren, umzurüsten, ihre Strategie zu überdenken und ihren Schwerpunkt von Gaza auf andere regionale Bedrohungen zu verlagern“. Sollte es nicht zu einer Einigung kommen, würden „die IDF im Gazastreifen feststecken und gleichzeitig die Spannungen im gesamten Nahen Osten sich verschärfen, was zu einem regionalen Krieg führen könnte, während der Fokus der IDF woanders liegt.“
Es ist von großer Bedeutung, dass Gallant die gesamte Verantwortung für die Unterzeichnung oder Nichtunterzeichnung eines Abkommens eindeutig der israelischen Seite zuschreibt. Das zeigt die reale Situation. Die Hamas hat wiederholt betont, dass sie bereits am 2. Juli einem Abkommen zum Geiselaustausch zugestimmt hat. Dieses Abkommen war von den USA vorgeschlagen und von Israel gebilligt worden. Nachdem die Hamas jedoch ihr Einverständnis erklärt hatte, änderte Netanjahu seinen Standpunkt und fügte eine Reihe weiterer Forderungen und Bedingungen hinzu, um die Unterzeichnung des Abkommens zu verhindern.
Die Wut auf den Straßen
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Angehörigen der Geiseln, sobald die Nachricht vom Tod der sechs Geiseln bekannt wurde, ihrer Wut gegen Netanjahu Ausdruck verliehen und zu Massenprotesten aufriefen. Das Forum der Geiselfamilien erklärte:
„Ohne die Verzögerungen, Sabotage und Ausreden wären diejenigen, von deren Tod wir heute Morgen erfahren mussten, wahrscheinlich noch am Leben. Netanjahu hat die Geiseln im Stich gelassen. Dies ist nun eine Tatsache. Ab morgen wird das Land beben. Wir rufen die Öffentlichkeit auf, sich darauf vorzubereiten. Wir werden das Land zum Stillstand bringen. Wir werden uns nicht mehr verstecken.“
Die Proteste gegen Netanjahu am Sonntag waren gigantisch: Hunderttausende gingen auf die Straße, möglicherweise waren es sogar bis zu 300.000 in Tel Aviv und weitere 200.000 im Rest des Landes. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Blendgranaten ein, um die Demonstranten von den wichtigsten Autobahnen zu vertreiben.
Die Proteste in Tel Aviv begannen mit einem Marsch zur IDF-Zentrale, bei dem die Teilnehmer sechs symbolische Särge für die Leichen der Geiseln trugen, die am Samstagabend geborgen wurden. Die Demonstranten, die israelische Flaggen trugen, skandierten „Jetzt, jetzt!“ und forderten eine sofortige Einigung in den Verhandlungen zu den Geiseln. Außerdem riefen sie: „Wir wollen sie lebend zurück!“
Angehörige der Geiseln wandten sich an die Menge. „Wenn sie nicht immer wieder ein Abkommen sabotiert hätten, wären 26 Geiseln, die in der Gefangenschaft ermordet wurden, heute hier bei uns, lebend. Sechs von ihnen haben bis letzte Woche in einer Hölle überlebt, die die meisten von euch MKs [Abgeordneten] nicht einen Tag lang überlebt hätten“, sagte einer von ihnen und wandte sich direkt an Netanjahu.
Einav Zangauker, die Mutter einer der Geiseln, beschuldigte den Premierminister, mit dem Leben der Geiseln Russisch Roulette zu spielen, „bis sie alle tot sind“; die sechs Geiseln seien „auf dem Altar des Philadelphi-Spins“ geopfert worden. Sie beendete ihre Rede mit einem Aufruf zur Aktion: „Dies ist der Zeitpunkt zu handeln. Wir müssen die Nation aufrütteln, bis es eine Einigung gibt. Geht auf die Straße, Israelis. Geht auf die Straße!“ In Jerusalem protestierten Tausende vor dem Büro des Premierministers, wo sie versuchten eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitskabinetts zu stören.
In dieser angespannten Atmosphäre kündigte der Generalsekretär der Histadrut, Bar-David, an, dass die israelische Gewerkschaft für Montag zu einem Generalstreik aufrufen werde: „Das ganze Land wird morgen stillstehen.“ Auch die Ärztegewerkschaft erklärte ihre Unterstützung für den Streik. Dem Protest- und Streikaufruf schlossen sich auch oppositionelle Arbeiterführer und die bürgerlichen Oppositionsführer Benny Ganz und Yair Lapid an.
Der rechtsextreme Regierungsminister Bezalel Smotrich beantragte eine gerichtliche Verfügung, um den Streik zu verhindern, und argumentierte, dass er nicht wegen Tarifverhandlungen oder ökonomischen Forderungen der Arbeiter ausgerufen worden sei, sondern dass es sich um einen „politischen Streik“ handele, der darauf abziele, die Entscheidungen der Regierung in „entscheidenden Fragen der nationalen Sicherheit“ zu beeinflussen. Er hatte nicht unrecht.
Dies ist ein sehr merkwürdiger Streik. Er ist ein Aufruf an die Arbeiter, ihre industrielle Macht zu nutzen, um politische Ziele zu erreichen, in diesem Fall die Herbeiführung eines Geiseldeals. Diese Ziele werden aus ihren eigenen Gründen auch von einem großen Teil der herrschenden Klasse unterstützt. Sowohl das Wirtschaftsforum als auch der Unternehmerverband, die die Kapitalisten, insbesondere im wichtigen High-Tech-Sektor, vertreten, haben sich öffentlich für den Streik ausgesprochen.
Al Jazeera berichtet darüber Folgendes:
„Der israelische Unternehmerverband erklärte, er unterstütze den Streik und warf der Regierung vor, ihrer ‚moralischen Pflicht‘, die Gefangenen lebend zurückzubringen, nicht nachzukommen. ‚Ohne die Rückkehr der Geiseln werden wir nicht in der Lage sein, den Krieg zu beenden, wir werden nicht in der Lage sein, uns als Gesellschaft zu regenerieren, und wir werden nicht in der Lage sein, mit dem Wiederaufbau der israelischen Wirtschaft zu beginnen‘, sagte Verbandschef Ron Tomer.“
Wir haben es hier mit dem gleichen klassenübergreifenden Bündnis zu tun, das hinter den Protesten gegen Netanjahus Justizreform Anfang 2023. Was wir hier sehen, ist eine Kombination einer Massenbewegung von unten, angeführt von den Angehörigen der Geiseln, mit einer massiven Krise der Spitzen der herrschenden Klasse und des Staatsapparats. Netanjahus Handeln ist in erster Linie von seinem eigenen Wunsch motiviert, sich an der Macht zu halten und ein Gerichtsverfahren gegen ihn zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist er durchaus bereit, die gesamte Region in einen blutigen Krieg zu stürzen, in den er auch die Vereinigten Staaten hineinziehen will.
Spaltungen in der herrschenden Klasse
In seinem kaltblütigen Kalkül sind die Leben der Geiseln nur Kleingeld, das er zu seinem politischen Vorteil nutzen kann. Seine zynischen Manöver haben ihn von seiner eigenen Wählerschaft, von großen Teilen der israelischen herrschenden Klasse und sogar von vielen in seinem eigenen Kabinett entfremdet, wie der Konflikt mit Gallant zeigt.
Ein Artikel der liberal-zionistischen Zeitung Haaretz zitiert ein hochrangiges Mitglied von Netanjahus Kabinett, das ihm für den Tod der Geiseln die Schuld gibt:
„Er wusste, dass die Geiseln nicht viel Zeit hatten, dass der Sand in ihrem Stundenglas zur Neige ging. Er wusste, dass es Befehle gab, sie zu töten, wenn es zu Befreiungsversuchen kommen sollte. Er war sich der Bedeutung seines Vorgehens bewusst und handelte kaltblütig und grausam. Alle wissen, dass er verdorben, ein Narzisst und ein Feigling ist, aber sein Mangel and Menschlichkeit wurde in den vergangenen Monaten in all ihrer Hässlichkeit vollkommen entblößt. Das Blut klebt an seinen Händen, ohne die Hamas von jeglicher Verantwortung freizusprechen.“ (eigene Übersetzung, unsere Hervorhebung)
Haaretz beendet den Artikel mit einem Aufruf, Bibi zu entmachten:
„Die Ermordung der Geiseln sollte jegliche Zweifel beseitigen. Die Katastrophe muss ein Wendepunkt in dem sisyphushaften Bemühen sein, die gefährliche und radikale Bande, die die Kontrolle über Israel übernommen hat, nach Hause zu jagen.“
Ein signifikanter Teil der herrschenden Klasse und des Staatsapparats möchte Netanjahu loswerden, nicht weil es ihnen um das Schicksal der Geiseln geht und noch weniger, weil sie mit dem Massaker an den Palästinensern ein Problem haben, das bereits über 40.000 Leben gekostet hat. Nein. Sie sind gegen Netanjahu, weil sie ihn als eine Gefahr für die Interessen der Kapitalistenklasse und der Existenz des zionistischen Staates selbst sehen.
Beim Aufruf zum Generalstreik drückte es Bar-David, der Vorsitzende von Histadrut, so aus: „Wir sind nicht mehr ein Volk; wir bestehen aus verfeindeten Lagern. Wir müssen den Staat Israel wiederherstellen.“ Damit bewies er sich als loyaler Diener der Interessen der zionistischen herrschenden Klasse.
Die Vorstellung, dass Arbeiter und Kapitalisten alle in der Verteidigung Israels „gegen den ausländischen Feind“ vereint sind, ist es, was der herrschenden Klasse in Israel ermöglichte, die wirklichen Spaltungen des Landes anhand von Klassen zu übertünchen und ein national-zionistisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, um an der Macht zu bleiben.
Aus der Sicht von Bar-David und einem signifikanten Teilen der israelischen Großunternehmern, sowie bürgerlichen politischen Vertretern, zerstört Netanjahu die Legitimität des Staates Israel, und deswegen ist er gefährlich. Das hat zu einer unübertroffenen politischen Krise geführt, die bis an die Spitze des israelischen Staates reicht. Es bleibt abzuwarten, ob sie wirklich bereit sind, ihn zu stürzen.
Wenn es eine Sache gibt, die die israelischen Kapitalisten mehr fürchten als Netanjahu, dann ist es die Möglichkeit, dass die Arbeiterklasse als eigenständige Kraft auf den Plan treten könnte. Diese Sorge teilen sie sich mit der Führung der Histadrut. Der heutige Generalstreik, der zuerst 24-Stunden dauern und damit um 6 Uhr morgens am Dienstag (3. September) beendet werden sollte, wurde nun von den Gewerkschaftsführern verkürzt und soll heute um 18 Uhr enden. Ein Arbeitsgericht hatte beschossen, dass er vor 14:30 Uhr aufhören muss und die Führung der Histadrut haben sich bereitwillig verpflichtet, dem Gerichtsbeschluss Folge zu leisten.
Laut der Jerusalem Post erklärte Histadrut-Chef Arnon Bar David nach der Entscheidung: „Wir respektieren das Gesetz.“ Ein Vertreter der Histadrut sagte gegenüber Radio 103FM: „Wir sind Menschen, die sich ans Gesetz halten. Wenn das Gericht anordnet, den Streik zu beenden, tun wir das.“ Wie wir sehen können, sind diese sogenannten Gewerkschaftsführer nicht bereit, dem zionistischen Staat die Stirn zu bieten.
In all dem spielt natürlich die Haltung der Vereinigten Staaten eine entscheidende Rolle. Netanjahus Politik, sein brutaler, willkürlicher, völkermörderischer Angriff auf Gaza und seine ständigen Provokationen im Libanon und im Iran zielen darauf ab, den Konflikt auszuweiten und den US-Imperialismus tiefer in diesen hineinzuziehen. Netanjahus Politik steht nicht gerade im Einklang mit den Zielen des US-Imperialismus in der Region. Sie destabilisiert die anderen Regime, auf die sich die USA stützen wollen: die reaktionären Monarchien in der Golfregion und Jordanien, die Türkei und Ägypten.
Wie wir jedoch von Anfang an gesehen haben, ist der US-Imperialismus nicht bereit, Netanjahu ernsthaft herauszufordern. Hätten Biden und der US-Imperialismus ihn wirklich zurückhalten wollen, hätten sie es sehr einfach tun können: Indem sie die militärische und finanzielle Hilfe aussetzen. Das haben sie nicht. Es gab Verwarnungen. Biden hat Netanjahu zurechtgewiesen, sowohl im Privaten als auch öffentlich. Aber er hat seine milden, verschleierten Drohungen nie umgesetzt. Der US-Imperialismus trägt die volle Verantwortung für das Massaker an den Palästinensern im Gazastreifen.
Gleichzeitig stehen Biden und die Demokraten unter viel Druck von Teilen ihrer eigenen Wählerschaft, die mit der Notlage der Palästinenser sympathisieren. Kamala Harris hat sich bereits eindeutig auf die Seite Israels gestellt. Nichts hat sich geändert. Die Demokraten sind eine der beiden Parteien der herrschenden Klasse des US-Imperialismus und als solche sind sie entschlossen, Israel als einen ihrer wichtigsten Verbündeten in einer entscheidenden Weltregion zu verteidigen. Doch gleichzeitig wäre die Sicherstellung einer Art Abkommen in den Wochen vor den Präsidentschaftswahlen im November sehr in ihrem Wahlinteresse.
Was sagt Biden jetzt? Angesichts der ständigen Sabotage der Verhandlungen durch Netanjahu hat er nun verkündet, dass die USA ein Angebot vorbringen werden, bei dem es ums Ganze geht. Biden sagt, dass es dann von Israel als auch der Hamas abhängt, es anzunehmen oder die USA ziehen sich aus den Verhandlungen zurück.
Das heißt gar nichts. Es gab schonmal einen „endgültigen Deal“ im Juli, der auch von den USA auf der Grundlage eines Vorschlags vermittelt worden war, und den Israel angenommen hatte. Als die Hamas verkündeten, dass sie zustimmten, fügte Netanjahu sofort weitere Forderungen hinzu, um das Abkommen zu vereiteln. Und dann beschloss er, den Führer und Chefverhandler der Hamas zu töten!
Die Fakten sprechen für sich. Hamas war durchaus bereit, ein Abkommen zu unterzeichnen. Es ist Netanjahu, der systematisch jeden Versuch eines Deals sabotierte.
Provokationen im Westjordanland
Während das Gemetzel in Gaza weitergeht, nehmen die Provokationen der rechtsextremen Siedler im Westjordanland (unter dem Schutz der israelischen Armee, der Sicherheitskräfte und der Regierung) sowie die Angriffe des israelischen Militärs zu.
Die Stadt Jenin war die letzten fünf Tage unter israelischer Besatzung. Laut der Stadtverwaltung von Jenin hat die israelische Armee, seit sie am Mittwoch, dem 28. August ihre Angriffe gestartet hat, 70% der Straßen der Stadt und 20 Kilometer ihres Wasser- und Abwassernetzwerkes zerstört. Zehntausende hatten keinen Zugang zu Wasser, Elektrizität oder Lebensmitteln und ihnen wurde von den Besatzungsstreitkräften der Zugang zu humanitärer Hilfe verwehrt.
Die westlichen imperialistischen Mächte, die gerne von der „regelbasierten Ordnung“ reden, haben dabei zynischerweise ein Auge zugedrückt. Oder, um genauer zu sein, unterstützen sie in ihrer widerwärtigen Doppelmoral das Massaker an den Palästinensern. Uns wird gesagt, Israel hätte das Recht auf Selbstverteidigung, aber dieses Recht lässt sich natürlich nicht auf die Palästinenser ausweiten. Milliarden an Waffenlieferungen und Unterstützung werden nach Israel geschickt, während die Palästinenser massakriert werden. Und wenn irgendein internationales Gericht es auch noch wagt, das zu hinterfragen, wird enormer Druck ausgeübt, sie mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Propalästinensische Demonstranten werden dämonisiert, Solidaritätscamps brutal aufgelöst und Aktivisten mithilfe von Antiterrorgesetzen schikaniert.
Weit davon entfernt, ein „sicherer Hafen“ für die Juden zu sein, ist Israel ein Land geworden, das sich ständig im Kriegszustand mit seinen Nachbarn befindet.
Die einzige Möglichkeit, diese ausweglose Situation aufzulösen, ist mit revolutionärer Aktion. Zuallererst gegen die kriegstreiberischen Regierungen im Westen, ohne deren Unterstützung das Massaker in Gaza nicht stattfinden könnte; zweitens ein revolutionärer Kampf in der Region, um die reaktionären Regime von Saudi-Arabien, den Golfstaaten, Jordanien, Ägypten, der Türkei, u.a. zu stürzen, die Mitschuld an der Unterdrückung der Palästinenser sind.
Letztendlich muss die Befreiung der Palästinenser mit einer Politik einhergehen, die die israelische Gesellschaft entlang von Klassenlinien spaltet. Das würde eine klassenunabhängige Politik benötigen, durch die die Interessen der jüdischen und arabischen Arbeiter in Israel den Interessen der israelischen Kapitalistenklasse gegenübergestelltwerden. Was die Arbeiterklasse in Israel verstehen muss, ist, dass ein Volk, das ein anderes unterdrückt, niemals selbst frei sein kann.
Weit davon entfernt, ein „sicherer Hafen“ für die Juden zu sein, ist Israel ein Land geworden, das sich ständig im Kriegszustand mit seinen Nachbarn befindet. Das liegt daran, dass Israel durch die gewaltsame Vertreibung eines ganzen Volkes, der Palästinenser, aus seiner historischen Heimat geschaffen wurde.
Für Jahrzehnte hat sich die zionistische herrschende Klasse an der Macht halten können, indem sie die gesamte jüdische Bevölkerung unter dem Vorwand vereinigte, der zionistische Staat garantiere ihnen ihre Sicherheit. Der Angriff am 7. Oktober hat diesen Mythos gesprengt. Die gegenwärtige Krise eröffnet eine kleine Chance, die israelische Gesellschaft entlang von Klassenlinien zu spalten. Doch das würde den Aufbau einer revolutionären Kraft erfordern, die sowohl Netanjahu als auch den Flügel der Kapitalistenklasse, die sich gegen ihn stellt, entlarven kann; eine revolutionäre Kraft, die sich verpflichtet, der Unterdrückung des palästinensischen Volkes ein Ende zu bereiten.
Nur wenn die zionistische herrschende Klasse gestürzt, ihre Herrschaft endlich beendet wird und das palästinensische Volk ein Heimatland erhält, wird dieser seit Generationen andauernde Konflikt gelöst werden. Das erfordert eine Revolution in der gesamten Region.