Revolution in Ägypten: Der Frühling wird wieder erwachen

In Ägypten schlummert ein Riese, dessen Erwachen die Reichen und Mächtigen auf der ganzen Welt schon einmal in Furcht versetzt hat: Selbstlos kämpften die Massen 2011–2014 im ganzen Land gegen das Regime. Mehr als zehn Jahre später scheint sich oberflächlich nicht viel verändert zu haben. Anstelle der Selbstherrschaft von Husni Mubarak finden wir nun eine Militärdiktatur mit Abdel Fatah El-Sisi an der Spitze vor.

Ägypten, ein Land mit rund 110 Millionen Einwohnern, gilt als Stabilitätsfaktor im Nahen Osten. Doch der Schein trügt. Anfang des Jahres lag die Inflation bei rund 30 %. Schätzungen zufolge leben 60 % der Bevölkerung unterhalb oder nahe an der Armutsgrenze. Das Land ist mit über 11 Mrd. Dollar der zweitgrößte Schuldner beim IWF. Der Währungsfonds pocht auf weitere Sparmaßnahmen auf Kosten der Arbeiterklasse. Aber die Revolution ist nicht vergessen.

Das Erwachen

Im Dezember 2010 verbrannte sich in Tunesien der verarmte Gemüsehändler Mohamed Bouazizi voller Verzweiflung selbst. Dies war nicht die erste Tragödie dieser Art, doch es war der Anstoß für Massenproteste und schließlich einen Generalstreik. Jahrzehntelange Unzufriedenheit brach nun offen zum Vorschein. Das Regime versuchte, die entstandene Rebellion mit Gewalt zu brechen. Als dies nicht funktionierte, bat es Kompromisse an. Doch die Massen waren nicht mehr zu stoppen. Nach dreiwöchigen Protesten war der 23 Jahre herrschende Diktator Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt.

Dies war ein Hoffnungsschimmer für die ganze arabische Welt. Vor allem die revolutionäre Jugend in Ägypten, die durch die zweite palästinensische Intifada im Jahr 2000 politisiert wurde, ließ sich davon inspirieren. Am 25. Januar 2011 gingen Hunderttausende Ägypter auf die Straßen, um gegen das korrupte Regime von Mubarak zu protestieren. Sie riefen den Slogan ihrer tunesischen Brüder und Schwestern: „Das Volk will den Sturz des Regimes.“

Die Revolutionswelle, die sich in der gesamten Region ausbreitete und als Arabischer Frühling in die Geschichte einging, traf in Ägypten auf fruchtbaren Boden. Mubarak, unterstützt vom Westen, hatte 30 Jahre lang das Land durch Notstandsgesetze regiert. Folter und Gefängnis gehörten zum Alltag der politischen Opposition. Die offizielle Arbeitslosigkeit in Ägypten lag 2009 bei rund 10 %, besonders die Jugend litt darunter. Der Lebensstandard war gesunken und der Mindestlohn reichte nicht zum Überleben. Die Finanzkrise von 2008 hatte ihre Spuren hinterlassen. Der Gazakrieg von 2009 politisierte weitere Schichten und Hungeraufstände ließen die Herrschenden vor einer Wiederholung der „Brotintifada“ von 1977 fürchten.

Die Ägyptische Revolution wurde besonders von der Jugend und von Frauen angeführt. Trotz gewaltiger staatlicher Repression gaben die Menschen nicht auf. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Das Tränengas zeigte keine Wirkung mehr. Die Gummigeschosse ließen die Massen nicht fliehen, sondern machten sie nur umso wütender. Die Rekruten der Armee waren für das

Regime nutzlos, weil sie sich mit den Demonstranten verbrüderten. Stattdessen wurden organisierte Schlägertrupps eingesetzt und die Polizei schoss mit scharfer Munition. Heldenhaft verteidigte sich die Revolution.

Die Rolle der Arbeiterklasse

Trotz riesiger Straßenproteste klammerte sich Mubarak weiter an die Macht. Er hoffte, sein Regime stabilisieren zu können, sobald die Lage sich beruhigt hatte. Per Fernsehansprache verkündete er am 1. Februar, dass er bei den Wahlen im September nicht antreten werde.

Erst eine landesweite Streikwelle konnte ihn zum sofortigen Rücktritt zwingen. Massenproteste sind ein Schritt vorwärts, weil sie Menschen mobilisieren, die vorher noch inaktiv waren. Aber die wirkliche Stärke der Arbeiterklasse liegt in der Kontrolle der Produktionszentren. Es gab Proteste, Sit-ins und Streiks unter anderem bei der Börse, Medien-Organisationen, Stahlfirmen, Ölraffinerien, der Post, im Gesundheitsministerium, an den Universitäten, im öffentlichen Nahverkehr und Fernverkehr, von Krankenwagenfahrern und selbst bei der Polizei.

Besonders die Textilarbeiterinnen in Mahalla spielten eine Schlüsselrolle. Sie hatten in den Jahren 2006 bis 2008 mehrfach gestreikt und ihre Fabrik besetzt. Teilweise hatte ihr Kampf einen aufständischen Charakter angenommen und kurzweilig war die Stadt unter ihrer Kontrolle. Es gab Solidaritätsproteste im ganzen Land. Dies war eine Schule für die Zukunft und Inspiration für die Kämpfe ab 2011.

Die Machtfrage

Am 11. Februar trat Mubarak zurück. Das Massen jubelten. Doch sie hatten nicht nur für die Entfernung eines korrupten Staatsoberhauptes gekämpft. Die Last von Jahren der Knechtung und Erniedrigung waren in wenigen Tagen von ihren Schultern gefallen. Augenzeugen berichten, wie die Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo trotz ihrer Verletzungen zum ersten Mal in ihrem Leben eine aufrechte Haltung eingenommen hatten. Sie hatten ihre Würde wiedererlangt und ihr Leben in die eigenen Hände genommen.

Die Protestierenden am Tahrir-Platz kümmerten sich liebevoll um jeden. Nachbarn brachten Essen vorbei. Tee wurde serviert. An jeder Ecke diskutierten Menschen angeregt über Politik und die nächsten Schritte. Der Platz war einer der saubersten Orte in der ganzen Stadt. Denn es war ein Platz der Protestierenden und ihrer Revolution.

Es hatten sich revolutionären Komitees gebildet, die die Organisierung des täglichen Lebens übernahmen. Bewaffnete Truppen und Checkpoints der Revolution wurden etabliert, um gegen Plünderung und Schlägertruppen vorzugehen.

Dies waren die ersten Keime eines neuen Arbeiterstaats. In Tunesien war die revolutionäre Organisation der Massen sogar noch weiter fortgeschritten. In manchen Städten und sogar

ganzen Regionen hatten Komitees, die meist aus den lokalen Gewerkschaftseinheiten entsprungen waren, die Kontrolle übernommen und die alte Macht entfernt.

Auch in Ägypten standen als nächstes die Machfrage und die Ersetzung des alten bürgerlichen Staates auf der Tagesordnung. Die Hauptforderungen der Proteste waren zwar freie Wahlen und Meinungsäußerung, aber diese Demokratie war im Bewusstsein der Massen untrennbar verbunden mit einem gerechten und würdigen Leben. Dies lässt sich nur erfüllen, indem die Ursache des Problems angegangen wird: das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Die heutige Situation zeigt dies mit aller grausamen Deutlichkeit.

Ein bitteres Ende …

Ohne große Vorbereitung stürzte die Arbeiterklasse Ben-Ali und Mubarak – ein Zeugnis ihrer immensen Kraft. Doch eine spontane Massenbewegung wird trotz ihres unglaublichen Heroismus ab einem gewissen Punkt abebben und orientierungslos sein. Schlimmer noch werden sich falsche Freunde der Bewegung als Führung präsentieren und sie in Sackgassen locken. Das ist die Tragödie des Arabischen Frühlings.

Eine revolutionäre kommunistische Partei hätte die Revolution durch ihre verschiedenen Etappen begleiten und ihr letztlich zum Sieg verhelfen können. Im Laufe von 2011 bis 2014 gab es dazu mehrere Chancen. Solch eine Partei hätte unter anderem darauf hingearbeitet, dass die entstandenen räteähnlichen Strukturen ausgebaut werden und sich auf regionaler und nationaler Ebene koordinieren.

Die bürgerliche liberale Opposition und die Führung der Muslimbruderschaft hingegen nutzten die Bewegung für ihrer eigenen Agenda aus, nur um die Massen später zu verraten. Diese waren ihnen nur ein Druckmittel für Hinterzimmergespräche. Die Armeeführung hatte Mubarak abgesetzt, um weiterhin selbst die Zügel in der Hand halten zu können. Sie wurden damit beauftragt, die Neuwahlen und die Verfassungsänderung anzuleiten. Als die Führung der Muslimbruderschaft einen guten Deal mit der Armeeführung für die anstehenden Wahlen ausgehandelt hatten, entzogen sie den Protesten ihre Unterstützung.

Im Juni 2012 gewann der Kandidat der Muslimbruderschaft Mohammed Mursi mit 51 % die Präsidentschaftswahlen. Er gab sich im weiteren Verlauf mehr Befugnisse als Mubarak sie hatte. Spöttisch wurde er auch „Pharao“ genannt. Rund ein Jahr später war keines der grundlegenden Probleme gelöst. Es folgte einer der größten Proteste, die die Menschheit gesehen hat. Es wird geschätzt, dass rund 14 Millionen Menschen demonstrierten. Letztlich waren landesweite Streiks ausschlaggebend.

Die Führung der Armee stellte sich als neutraler Vermittler für das gesamte Volk dar. Besonders durch die Rolle der Armee in der kolonialen Revolution in den 1950er Jahren herrschte in Ägypten ein positives Bild von ihr. So konnte die Konterrevolution die Massenbewegung ruhigstellen und den damaligen Armeechef el-Sisi an die Spitze des Staates heben.

… und eine neue Hoffnung

Bis heute wurden all die ursprünglichen Widersprüche, die zum Ausbruch der ägyptischen Revolution der 2010er geführt hatten, nicht gelöst. Stattdessen kamen weitere Einschnitte wie die Corona-Pandemie und der Ukrainekrieg hinzu. Besonders letzterer hat die Brotpreise stark steigen lassen.

Doch diesmal gibt es einen entscheidenden Unterschied. Anfang 2011 hatte die überwiegende Mehrheit – über 60 % der Bevölkerung sind unter 30 Jahre – ihr Leben lang unter Mubaraks Regime gelebt. Damals fühlten sie sich allein mit ihren Gedanken und Gefühlen. Sie kannten noch nicht die Macht ihrer millionenfachen Stimme.

Im Februar dieses Jahres streikten 10.000 Arbeiterinnen erneut in Mahalla. Hinzu kommt, dass seit dem 7. Oktober schätzungsweise 120 pro-palästinensische Aktivisten verhaftet wurden. Dies sind die Vorboten einer kommenden Eruption.

Ägypten ist kein Einzelfall in der Region. In allen Ländern hat sich die Situation verschärft. Die arabische Revolution hatte sich ausgebreitet von Tunesien über Jordanien, nach Syrien und Jemen, Bahrain und Libanon und nicht zuletzt auch Palästina. Nun könnten die Proteste um Palästina selbst der Auslöser für eine neue Revolution im Nahen Osten sein.

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