Engels‘ Briefe an Kautsky – von Leo Trotzki (Oktober 1935)

An diesem Samstag feiern wir den 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Im vergangenen August begingen vor den 80. Jahrestag der Ermordung Leo Trotzkis durch einen stalinistischen Agenten. Der folgende Text von Trotzki über Engels und Karl Kautsky erscheint hier erstmals auf Deutsch. Er ist nicht nur als historisches Dokument wertvoll, sondern auch für das Verständnis der wissenschaftlichen Methode des Marxismus und der Rolle von Revolutionären.

Friedrich Engels, der kongeniale Genosse, Weggefährte und Freund von Karl Marx, wurde vor genau 200 Jahren geboren: am 28. November 1820. Gemeinsam mit Marx entwickelte er die theoretischen Grundlagen des „wissenschaftlichen Sozialismus“ (revolutionären Marxismus). Mit seinen Arbeiten vertiefte er das Verständnis von der Entstehung der Menschheit, der Herausbildung der Familie und des Staates als Unterdrückungsmaschinerie und – aus unserer Sicht ganz entscheidend – er leistete einen großen Beitrag zur Darlegung des dialektischen Materialismus, der philosophischen Methode des Marxismus.

Neben seinen Leistungen auf dem Gebiet der Theoriearbeit war Friedrich Engels jedoch auch ein Mann der revolutionären Praxis. Mit seinen Büchern (z.B. „Anti-Dühring“), Artikeln und in unzähligen Briefen gab er einer ganzen Generation von führenden Köpfen der Arbeiterbewegung in Europa theoretisches Rüstzeug, Perspektiven und politische Orientierung, ohne die es niemals möglich gewesen wäre, die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert in eine Massenbewegung zu verwandeln.

Gerade die österreichische Sozialdemokratie verdankt Engels, der zu Victor Adler und Adelheid Popp ein sehr enges persönliches und politisches Verhältnis pflegte, sehr viel. So waren Engels und seine engste Mitarbeiterin Louise Kautsky federführend im Entstehungsprozess der proletarischen Frauenbewegung in Österreich.Genau diesen Aspekt seines Lebenswerks beleuchtet der folgende Artikel von Leo Trotzki. Er entstand 1935 aus Anlass der Veröffentlichung des Briefwechsels von Friedrich Engels und dem deutsch-österreichischen Sozialdemokraten Karl Kautsky in Buchform (Karl Kautsky [Hg.], Aus der Frühzeit des Marxismus – Engels‘ Briefwechsel mit Kautsky, Orbis-Verlag A.-G., Prag, 1935).

Trotzki zeichnet auf der Grundlage dieses bis dahin unbekannten Materials ein außergewöhnliches Porträt des großen Revolutionärs.Kautsky galt lange Zeit als jener Theoretiker, der das Werk von Marx und Engels weiterführte. Er kann als der Begründer jener Schule gesehen werden, die später als „Austromarxismus“ bekannt wurde. Trotzki, der selbst lange Jahre in Wien lebte, hier in der Sozialdemokratie aktiv war und die austromarxistischen Führer aus nächster Nähe kennenlernen konnte, unterzieht in mehreren Büchern diese Denkrichtung einer scharfen politischen Kritik, wobei er nachweist, dass die Methode von Kautsky, Otto Bauer & Co. mit der dialektischen Methode und dem revolutionären Spirit des Marxismus nicht viel gemein hat.

Mit dem folgenden Artikel zeichnet er nach, welche Kluft in der persönlichen Haltung und in der politischen Ausrichtung zwischen Engels und der nachfolgenden Generation der sozialdemokratischen Arbeiterführer bestand. Der aus der 68er-Bewegung bekannte Spruch „das Private ist politisch“ nimmt anhand dieses Briefwechsels konkrete Form an.

Wir halten diesen Artikel nicht nur als historisches Dokument, das Einblick in die frühe Geschichte der Arbeiterbewegung und des Marxismus bietet, für interessant, sondern er beinhaltet auch wichtige Ansatzpunkte, um das Verständnis von der wissenschaftlichen Methode des Marxismus und der Rolle von RevolutionärInnen in der Arbeiterbewegung zu schärfen.

Das Jahr 1935 markiert den 40. Todestag von Friedrich Engels, einem der beiden Autoren des Kommunistischen Manifests. Der andere war Karl Marx. Dieser Jahrestag ist auch deshalb beachtenswert, da Karl Kautsky, mittlerweile 81 Jahre alt, endlich seine Korrespondenz mit Engels veröffentlicht hat. Das ist ein sehr wertvolles Geschenk für all jene, die sich ernsthaft für die politische Geschichte der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die Entwicklung der Ideen des Marxismus, das Schicksal der Arbeiterbewegung und letztlich die Persönlichkeit von Friedrich Engels interessieren.

Zu Marx‘ Lebzeiten spielte Engels, wie er es selbst ausdrückte, die zweite Geige. Aber mit der letzten Erkrankung und speziell nach dem Tod von Marx wurde Engels der direkte und unbestrittene Dirigent im Orchester des Weltsozialismus und blieb es die kommenden 12 Jahre. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Engels längst von seinen geschäftlichen Verpflichtungen befreit. Er war finanziell völlig unabhängig und konnte daher seine ganze Zeit der Redaktion und Publikation des literarischen Nachlasses von Marx widmen, seine eigene Forschungsarbeit betreiben und eine umfangreiche Korrespondenz mit den Linken in der Arbeiterbewegung in allen Ländern führen. Sein Briefwechsel mit Karl Kautsky stammt aus seiner letzten Lebensphase (1881-1895).

Die in ihrer Zielstrebigkeit und Klarheit einzigartige Persönlichkeit von Engels wurde in den nachfolgenden Jahren vielen Interpretationsversuchen unterzogen – das ist die Logik des Kampfes. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, wie Ebert, Scheidemann und andere während des letzten Krieges Engels als deutschen Patrioten porträtierten, während die Publizisten der Entente ihn als Pangermanisten darstellten. In diesen und anderen Fragen helfen die Briefe, tendenziöse Überlagerungen von Engels‘ Persönlichkeit zu beseitigen. Doch das ist nicht die zentrale Bedeutung dieser Briefe. Man kann ohne Angst vor Übertreibung sagen, dass jedes neue Dokument mit einem Bezug zu Engels ihn als noch viel feineren, edleren und faszinierenderen Menschen zeigt, als er uns zuvor erscheinen musste.

In den frühen 1880er Jahren tat sich Kautsky in der Rolle des offiziellen Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie hervor, die ihrerseits wieder zur führenden Partei der Zweiten Internationale aufstieg. So wie Engels zu Lebzeiten von Marx, so spielte auch Kautsky bestenfalls die zweite Geige, solange Engels am Leben war – mit großen Abweichungen vom ersten Violinisten. Nach dem Tode Engels‘ wuchs die Autorität des Schülers rasant an und erreichte um die erste Russische Revolution 1905 ihren Zenit. In seinem Kommentar zum Briefwechsel beschreibt Kautsky seine Aufregung bei seinem ersten Besuch bei Marx und Engels. Ein Vierteljahrhundert später haben viele junge Marxisten – speziell auch der Autor dieses Artikels – dieselbe Aufregung verspürt, als sie die Stufen zum bescheidenen Haus in Friedenau, in der Vorstadt Berlins, wo Kautsky über viele Jahre wohnte, erklommen. Er wurde damals in Fragen der Theorie als der überragende und unangefochtene Führer der Internationale angesehen. Von seinen Gegnern wurde er als „Papst“ des Marxismus bezeichnet.

Doch Kautsky konnte sich diese Autorität nicht lange erhalten. Große Ereignisse im letzten Vierteljahrhundert haben ihm gewaltig mitgespielt. Während und nach dem Krieg war Kautsky regelrecht die Personifizierung nervöser Unentschlossenheit. Was bis dahin nur einige Wenige erahnt hatten, wurde nun vollauf bestätigt, nämlich, dass sein Marxismus im Wesentlichen von rein akademischem und kontemplativem Charakter war. Wenn Kautsky von Wien aus, während eines Streiks im April 1889, schrieb, „meine Gedanken sind mehr auf der Straße, als beim Schreibtisch“ (S. 242), dann erscheinen diese Worte überraschend und fast schon falsch, selbst wenn sie aus der Feder des jungen Kautsky stammen. Sein ganzes Leben lang blieb der Schreibtisch sein wichtigstes Betätigungsfeld. Straßenkämpfe erschienen ihm eher als Hindernisse. Er hat den Ruf, die Doktrin popularisiert zu haben, er gilt als der Interpret der Vergangenheit, als Verteidiger der Methode. Ja, das war er, aber er war nie ein Mann der Tat, nie ein Revolutionär oder Erbe des Geistes von Marx und Engels.
Dieser Briefwechsel legt nicht nur die radikalen Unterschiede zwischen den beiden Persönlichkeiten vollständig frei, sondern auch etwas zumindest für die gegenwärtige Generation völlig Unerwartetes – den Antagonismus, der zwischen Engels und Kautsky bestand, und der schlussendlich auch zum Bruch in ihren persönlichen Beziehungen führte.

„Der General“

Engels zeichnete sich durch seine Fähigkeit zur Einschätzung konkreter Umstände und Kräfteverhältnisse aus. Das und sein umfassendes Spezialwissen in militärischen Angelegenheiten befähigten ihn dazu, während des Französisch-Preußischen Krieges in der Londoner Pall-Mall Gazette bemerkenswerte militärtheoretische Artikel zu veröffentlichen. Dieser Artikelserie verdankte er die Zuschreibung, einer der besten Militärexperten seiner Zeit zu sein (zweifelsohne schauten sich die Herren aus der „Obrigkeit“ nicht ohne beträchtliches Erstaunen in den Spiegel). In seinem engsten Umfeld erhielt Engels deshalb den scherzhaften Spitznamen „General“. Mit diesem Namen zeichnete er auch eine Reihe von Briefen an Kautsky.

Engels war kein großer Redner, aber vielleicht hatte er auch einfach nie die Gelegenheit, einer zu werden. Gegenüber „Rednern“ zeigte er sogar einen Hauch von Verachtung, weil er – nicht ganz grundlos – die Meinung vertrat, sie würden komplexe Ideen zu Banalitäten reduzieren. Kautsky erinnert sich an Engels aber als einen bemerkenswerten Gesprächspartner, der über ein unerschöpfliches Erinnerungsvermögen und Witz verfügte und sich äußerst präzise auszudrücken pflegte. Leider ist Kautsky selbst nur ein mittelmäßiger Beobachter und alles andere als ein Künstler: In seinen eigenen Briefen sticht Engels unendlich klarer hervor als in den Kommentaren und Erinnerungen von Kautsky.

Engels Beziehungen zu anderen Menschen waren frei von Gefühlsduselei und Illusionen, zeichneten sich deshalb durch Unkompliziertheit aus und waren somit auch zutiefst menschlich. In seiner Gesellschaft bei einem Abendessen, wo Vertreter verschiedener Länder und Kontinente zusammenkamen, lösten sich alle Gegensätze zwischen der geschliffenen radikalen Gräfin Schack und der alles andere als geschliffenen russischen Nihilistin Vera Sassulitsch wie von Zauberhand auf. Die prächtige Persönlichkeit des Gastgebers drückte sich darin aus, dass er imstande war, sich selbst und die anderen über alles Zweitrangige und Oberflächliche zu erheben, ohne auch nur im Geringsten von seinen Sichtweisen oder gar seinen Gewohnheiten abzuweichen.

Man wird an diesem Revolutionär vergeblich die Wesenszüge des Bohemiens suchen, die sonst unter radikalen Intellektuellen so weit verbreitet sind. Engels war sowohl in kleinen wie auch in großen Dingen gegenüber Schlamperei und Pflichtvergessenheit äußerst unduldsam. Er schätzte Genauigkeit im Denken, Genauigkeit beim Finanzgebaren, Exaktheit in gesprochenem und gedrucktem Wort. Als ein deutscher Verleger versuchte, seine Schreibweise abzuändern, verlangte Engels mehrere Druckfahnen zurück, um sie noch einmal überprüfen zu können. Er schrieb: „Ich ließe mir eine Orthographie ebensowenig aufoktroyieren als eine Frau.“ (S. 147). Diese Verbindung von Zorn und Humor holt Engels beinahe ins Leben zurück! Zusätzlich zu seiner Muttersprache, die er wie ein Virtuose beherrschte, schrieb Engels frei auf Englisch, Französisch und Italienisch. Außerdem konnte er Spanisch und nahezu alle slawischen und skandinavischen Sprachen lesen. Sein Wissen auf den Gebieten der Philosophie, der Ökonomie, der Geschichte, der Physik, der Philologie und der Militärwissenschaften hätten für ein gutes dutzend ordentlicher und außerordentlicher Professuren gereicht. Doch abseits dieser Fähigkeiten besaß er einen ganz besonderen Schatz: Das geflügelte Denken.

Im Juni 1884, als Bernstein und Kautsky sich bei Engels über den einsetzenden Druck von allen nur denkbaren „gebildeten“ Biedermännern in der Partei beschwerten, antwortete ihnen Engels: „Hauptsache ist, sich nichts bieten zu lassen, aber dabei in aller Gemüthsruhe zu bleiben“ (S. 119). Während der General nicht immer „Gemüthsruhe“ im wörtlichen Sinne bewahrte – im Gegenteil, gelegentlich kochte er über vor Wut –, gelang es ihm doch immer, bald wieder über den Dingen zu stehen und das notwendige Gleichgewicht zwischen seinen Gedanken und Gefühlen wiederherzustellen. Die urwüchsige Seite seiner Persönlichkeit war von einer Mischung aus Optimismus und Humor gegenüber sich selbst und seinem engsten Umfeld sowie Ironie gegenüber seinen Gegnern gekennzeichnet. In seinem Optimismus war kein Fünkchen Selbstzufriedenheit. Die Quelle seiner Lebensfreude entsprang seinem fröhlichen und harmonischen Temperament, doch Letzteres war völlig durchdrungen mit dem Wissen, das mit der größten aller Freuden einherging: Der Freude kreativer Auffassungsgabe.

Engels‘ Optimismus wirkte sich gleichermaßen in politischen Fragen wie in persönlichen Angelegenheiten aus. Nach jeder Niederlage hielt er umgehend Ausschau nach Bedingungen, die einen neuen Aufschwung vorbereiteten, und nach jedem Rückschlag, dem ihm das Leben verpasste, gab er sich einen Ruck und schaute wieder in die Zukunft. So hielt er es bis zum Sterbetag. Es gab Zeiten, in denen er wochenlang nicht aufstehen konnte, um einem Knochenbruch, den er bei einem Sturz während einer Fuchsjagd der englischen Gentry erlitten hatte, auszukurieren. Manchmal verweigerten ihm seine gealterten Augen bei künstlichem Licht den Dienst, ohne dass es bei Nebel in London auch tagsüber kein Auskommen gibt. Doch Engels schreibt nie über seine körperlichen Leiden, und wenn, dann nur nebenbei, um eine verzögerte Antwort zu erklären und um umgehend zu versprechen, dass alles bald wieder besser laufen und die Arbeit wieder mit voller Geschwindigkeit fortgesetzt werde.

Einer von Marx‘ Briefen bezieht sich auf Engels Gewohnheit bei Konversationen scherzhaft zu zwinkern. Dieses „Augenzwinkern“ zieht sich durch die gesamte Korrespondenz von Engels. Dieser Mann der Pflicht und sehr tiefgehender Bindungen erinnert an alles andere als an einen Asketen. Er war ein Natur- und Kunstliebhaber, er genoss die Gemeinschaft kluger und lustiger Menschen, er umgab sich gerne mit Frauen und liebte gute Scherze, lachte gerne, schätzte ein gutes Abendessen, guten Wein und guten Tabak. Gelegentlich war er auch nicht abgeneigt, sich bei der Lektüre von Rabelais, der sich gerne seine Inspiration unter der Gürtellinie suchte, einen Lachkrampf zu holen. Generell kann man sagen, dass ihm nichts Menschliches fremd war. Nicht selten finden wir in seinen Briefen Anspielungen, dass in seinem Haus mehrere Flaschen guten Weines geöffnet wurden, wenn es darum ging Neujahr oder den erfolgreichen Ausgang einer Wahl in Deutschland, seinen eigenen Geburtstag und manchmal auch Anlässe von geringerer Bedeutung zu feiern. Selten nur finden wir Stellen, wo sich der General beschwert, dass er lieber auf dem Sofa liegen blieb, „anstatt mit euch zu kneipen… Nun, aufgehoben ist nicht aufgeschoben.“ (S. 335) Engels war 72 Jahre alt, als er das schrieb. Einige Monate später machte ein falsches Gerücht in der Presse die Runde, wonach Engels schwer krank sei. Der 73 Jahre alte General schrieb darüber: „Nun, wir haben auf den hochgradigen Kräfteverfall und das stündlich erwartete Ableben diverse Flaschen geleert.“ (S. 352)

War er ein Epikureer? Die zweitrangigen „Segen des Lebens“ waren nie das Entscheidende im Leben dieses Mannes. Er interessierte sich aufrichtig für die Familienmoral aus der Epoche der Wildheit oder die Geheimnisse der irischen Philologie, doch er war stets untrennbar verbunden mit dem zukünftigen Schicksal der Menschheit. Wenn er sich selbst einen trivialen Scherz erlaubte, dann war es nur in der Gesellschaft nicht trivialer Menschen. Seinem Humor, seiner Ironie und seiner Lebensfreude, das fühlt man, lag immer ein gewisses moralisches Pathos zugrunde – aber ohne die geringste Phrasendrescherei oder sonderliches Getue, immer gut versteckt, aber umso aufrichtiger und er war stets bereit, selbst ein Opfer zu bringen. Der Geschäftsmann, der Eigentümer einer Fabrik, eines Jagdpferdes und eines Weinkellers war bis auf die Knochen ein revolutionärer Kommunist.

Der Nachlassverwalter von Marx

Kautsky übertreibt nicht im Geringsten, wenn er in seinem Kommentar zum Briefwechsel feststellt, dass es unmöglich wäre, in der Geschichte einen vergleichbaren Fall zu finden, wo zwei Männer von so kraftvollem Temperament und eigenständigem ideologischen Denken wie Marx und Engels ihr ganzes Leben lang durch die Entwicklung ihrer Ideen, ihre soziale Aktivität und persönliche Freundschaft so untrennbar miteinander verbunden blieben. Engels hatte ein schnelleres Auffassungsvermögen, war flexibler, umtriebiger und vielseitiger; Marx war schwerfälliger, sturer und zu sich selbst und zu anderen strenger. Selbst ein hell leuchtender Stern erster Güte, war es ihm doch möglich, die intellektuelle Autorität von Marx mit jener Bescheidenheit anzuerkennen, mit der er generell seine persönlichen und politischen Beziehungen aufbaute.

Die Zusammenarbeit dieser beiden Freunde – hier haben wir den Rahmen, wo dieser Begriff seine volle Bedeutung erlangt – war so tiefgehend, dass es unmöglich ist, eine Trennlinie zwischen ihren Werken zu ziehen. Aber unendlich wichtiger als das rein literarische Zusammenwirken war die geistige Verbundenheit, die zwischen den beiden existierte und die niemals zerbrach. Sie schrieben sich entweder täglich Briefe, schickten sich epigrammatische Notizen und verstanden sich gegenseitig auch auf der Grundlage von kleinen Anspielungen, oder sie setzten ihre gleichermaßen epigrammatische Konversation inmitten von Zigarrenrauch fort. Über vier Jahrzehnte stärkten sich Marx und Engels so in ihrem ununterbrochenen Kampf gegen die offizielle Wissenschaft und den traditionellen Aberglauben gegenseitig den Rücken. Die öffentliche Meinung hatten sie dabei stets gegen sich.

Engels sah in der materiellen Unterstützung von Marx eine politische Verpflichtung von größter Wichtigkeit. Das war auch das Hauptmotiv dafür, dass er sich selbst so viele Jahre an die harte Arbeit im „fluchbeladenen Geschäft“ gebunden hat – wobei er auch in diesem Bereich genauso erfolgreich wirkte wie in allen anderen. Sein Vermögen wurde immer größer und damit verbesserten sich auch die Lebensumstände der Familie Marx. Nachdem Marx gestorben war, unterstützte Engels weiterhin dessen Töchter. Die alte Haushälterin des Ehepaares Marx, Helene Demuth, die ein fester Bestandteil der Familie war, übernahm er in seinen Dienst. Ihr gegenüber verhielt sich Engels in liebevoller Loyalität. Nach ihrem Tod klagte er, wie sehr er ihre Ratschläge nicht nur in persönlichen, sondern auch in Parteiangelegenheiten vermisse. Engels vermachte Marx‘ Töchtern praktisch sein gesamtes Vermögen, das abgesehen von der Bibliothek, den Möbeln usw. rund 30.000 Pfund betrug.

Wenn sich Engels in seinen jungen Jahren in die Schatten der Textilindustrie von Manchester zurückzog, um Marx die Arbeit am „Kapital“ zu ermöglichen, dann stellte er später als alter Mann, und dann ohne zu klagen, und wir können mit Sicherheit sagen, ohne Bedauern, seine eigene Forschungsarbeit zurück, um Jahre damit zu verbringen, die hieroglyphischen Manuskripte von Marx zu entziffern, Übersetzungen penibel zu überprüfen und nicht weniger sorgfältig seine Schriften in nahezu allen europäischen Sprachen zu korrigieren. In diesem Epikureer steckte ein vollkommen ungewöhnlicher Stoiker!

Berichte über den Fortschritt der Arbeit an Marx‘ literarischem Nachlass stellen ein konstantes Leitmotiv im Briefwechsel zwischen Engels und Kautsky und anderen Gleichgesinnten dar. In einem Brief an Kautskys Mutter (1885), die eine ziemlich bekannte Autorin beliebter Romane war, bringt Engels seine Hoffnung zum Ausdruck, dass das alte Europa endlich wieder in Bewegung geraten wird. Und er fügt hinzu: „Ich will nur hoffen, dass es mir Zeit lässt, noch den dritten Band vom Kapital fertig zu machen, nachher kanns losgehen!“ (S. 206) Aus dieser halb scherzhaften Feststellung lässt sich ganz eindeutig die Bedeutung ablesen, die er dem „Kapital“ beimaß; doch es zeigt auch, dass ihm die revolutionäre Aktion weit höher stand als jedes Buch, auch „Das Kapital“. Am 3. Dezember 1891, also sechs Jahre später, erklärt Engels Kautsky den Grund für sein langes Schweigen: „…verantwortlich ist der dritte Band, über dem ich erneut schwitze.“ Er ist damit beschäftigt, die Kapitel in der furchtbaren Handschrift über Geldkapital, Banken und Kredit zu entziffern und studiert gleichzeitig Literatur zu den entsprechenden Themen. Wohl weiß er schon im Vorhinein, dass er in der Mehrzahl der Fälle das Manuskript aus der Feder von Marx unverändert lassen könne, doch will er sich mit seinen zusätzlichen Forschungen gegen redaktionelle Fehler absichern. Und dann kommt noch die endlose, sorgfältig zu erledigende Kleinarbeit dazu! Engels tauscht sich darüber aus, ob an einer bestimmten Stelle ein Komma vonnöten wäre, und er dankt Kautsky für das Aufzeigen eines Rechtschreibfehlers im Manuskript. Das ist keine Pedanterie – sondern eine Form der Gewissenhaftigkeit, der zufolge nichts unwichtig ist, das zum wissenschaftlichen Gesamtwerk von Marx‘ Leben beiträgt.

Engels aber war weit davon entfernt, den Originaltext blind zu bewundern. Beim Überprüfen einer Kurzfassung von Marx‘ ökonomischer Theorie durch den französischen Sozialisten Deville, empfand Engels, seinen eigenen Worten zufolge, oft die Versuchung, hie und da Sätze zu streichen oder zu korrigieren, die sich bei genauerem Hinsehen als Marx‘ eigene Formulierungen erwiesen. Dem lag zugrunde, dass die Sätze „im Original eine durch das Vorausgegangene klargelegte Beschränkung erfahren, bei Deville aber eine ganz absolut-allgemeine und damit unrichtige Geltung erhalten“ (S. 95). Diese wenigen Worte liefern eine klassische Charakterisierung des häufigen Missbrauchs von fix fertigen Formeln des großen Meisters („magister dixit“).

Aber das ist nicht alles. Engels beschränkte sich nicht darauf, die Manuskripte für den zweiten und dritten Band vom Kapital zu entziffern, feinzuschleifen, zu transkribieren, Korrektur zu lesen und mit Kommentaren zu versehen, sondern wachte mit Argusaugen über Marx‘ Erbe und verteidigte es gegen feindliche Angriffe. Der konservative preußische Sozialist Rodbertus und seine Bewunderer behaupteten, Marx hätte die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Rodbertus übernommen, ohne die Quelle anzugeben. Mit anderen Worten: Marx habe von Rodbertus abgeschrieben. 1884 schrieb Engels darüber in einem Brief an Kautsky: „Welche horrende Unwissenheit dazu gehört, so etwas nur zu behaupten.“ (S. 140) Und einmal mehr ging Engels selbst daran, die unbrauchbaren Arbeiten von Rodbertus zu studieren, um diese Vorwürfe restlos zurückweisen zu können.

Die Briefe von Kautsky beinhalten eine gleichermaßen erleuchtende Betrachtung der Affäre mit dem deutschen Ökonomen Brentano, der Marx beschuldigte, Gladstone falsch zitiert zu haben. Marx‘ und Engels‘ Haltung gegenüber den Ideen ihrer Gegenspieler ähnelte, so absurd sie auch waren, der Haltung eines Bakteriologen gegenüber einem krankheitserregenden Bazillus. Immer wieder stößt man in den Briefen von Engels an Marx und an ihre gemeinsamen Freunde auf Stellen, in denen er Marx für sein Übermaß an wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit tadelte, das dieser an den Tag legte. Es überrascht daher keineswegs, dass er all seine Arbeit zur Seite legte, um Brentano wütend in die Schranken zu weisen.

Engels trug sich mit dem Gedanken, eine Biographie von Karl Marx zu schreiben. Niemand hätte sie so schreiben können wie er, da es notwendigerweise in einem großen Ausmaß Engels‘ eigene Autobiographie gewesen wäre. Er schreibt an Kautsky: „An diese Arbeit, auf die ich mich seit langem gefreut habe, gehe ich sobald ich irgend kann.“ (S. 382) Engels legt ein Gelübde ab, sich nicht länger ablenken zu lassen: „Ich bin nun 74 Jahre alt – ich muss mich beeilen.“ Noch heute kann man nur mit Bedauern daran denken, dass Engels dieses Projekt nicht umsetzen konnte.

Für das Ölportrait von Marx, das in der Schweiz in Vorbereitung war, lieferte Engels über Kautsky die folgende Farbbeschreibung seines verstorbenen Freundes: „So braun wie nur für einen Südeuropäer möglich, ohne viel Röthe auf den Backen… Schnurrbart pechschwarz mit weißen Härchen aber ohne die geringste Beimischung von Braun, ausgenommen verschoßne Haare, sonst Haar und Bart schneeweiß.“ (S. 149) Diese Beschreibung macht deutlich, warum Marx von seiner Familie und seinem engsten Umfeld den Spitznamen „Mohr“ erhielt.

Der Lehrmeister

In den ersten beiden Jahren adressierte Engels seinen Briefpartner mit „Lieber Herr Kautsky“ (der Begriff „Genosse“ war damals noch nicht gebräuchlich); nachdem sie sich in London näher kennengelernt hatten verkürzte er die Anrede auf „Lieber Kautsky“; von März 1884 ging er zum Du über, wenn er mit Bernstein und Kautsky schrieb, die beide 25 Jahre jünger als er waren. Kautsky schreibt nicht ohne Grund: „Von 1883 an betrachtete Engels Bernstein und mich als die zuverlässigsten Vertreter der Marxschen Theorie.“ (S. 93) Der Übergang zur Du-Form spiegelt zweifelsohne die wohlwollende Haltung des Lehrers zu seinen Schülern wider. Doch diese äußere Vertrautheit ist kein Beweis für ein tatsächlich inniges Verhältnis: dem stand hauptsächlich die Tatsache entgegen, dass sich Kautsky und Bernstein zu einem beträchtlichen Maße als Spießbürger erwiesen. Während ihres langen Aufenthalts in London unterstützte Engels sie dabei, sich die Marxsche Methode anzueignen. Doch er konnte in ihnen weder die revolutionäre Willenskraft noch die Fähigkeit zu kühnem Denken entfachen. Die Schüler waren und blieben Kinder einer anderen Geisteshaltung.

Marx und Engels waren in der Sturm- und Drang-Epoche zu politischem Leben erwacht, und sie nahmen als ausgereifte Kämpfer an der Revolution von 1848 teil. Kautsky und Bernstein wurden durch die vergleichsweise ruhige Zeitspanne zwischen der von Kriegen und Revolutionen geprägten Epoche der Jahre 1848 und 1871 einerseits und der Epoche zwischen der Russischen Revolution von 1905 und dem Ausbruch des Weltkriegs 1914 andererseits geprägt. Und diese Phase wirkt bis heute nach. Während seines gesamten und langen Lebens gelang es Kautsky all jene Schlussfolgerungen zu umschiffen, die seinen geistigen und physischen Frieden zu stören drohten. Er war kein Revolutionär, und das erwies sich als eine unüberwindbare Barriere, die ihn vom Roten General trennte.

Aber selbst, wenn man davon absieht, waren die beiden viel zu unterschiedlich. Es ist unbestreitbar, dass Engels im persönlichen Kontakt eine noch viel stärkere Wirkung entfaltete: Seine Persönlichkeit war viel reicher und bestechender als alles, was er tat und schrieb. Von Kautsky kann das nicht gesagt werden. Seine besten Bücher sind bei weitem klüger als er es selbst war. Im persönlichen Umgang verlor Kautsky an Gewicht. Es mag dies auch dazu beigetragen haben, dass Rosa Luxemburg, die in unmittelbarer Nachbarschaft von Kautsky wohnte, viel früher als Lenin sein Spießbürgertum erkannte, auch wenn sie, was das politische Verständnis anlangte, mit Lenin nicht mithalten konnte. Aber das bezieht sich alles auf eine weit spätere Phase.

Aus dem Briefwechsel geht eindeutig hervor, dass zwischen dem Lehrer und dem Schüler nicht nur auf dem Gebiet der Politik, sondern auch in der Herangehensweise an die Theorie eine unsichtbare Barriere bestehen blieb. Engels, der generell sehr zurückhaltend war, wenn es um Lob ging, bezog sich manchmal durchaus mit Begeisterung („Ausgezeichnet“) auf die Schriften von Franz Mehring oder Georgi Plechanow; doch bei Kautsky blieb er mit Lob stets sehr sparsam, und man erahnt eine gewisse Gereiztheit in seiner Kritik. Wie schon Marx beim ersten Besuch von Kautsky bei ihm zu Hause, so war auch Engels von der passiven Selbstzufriedenheit des jungen Wieners und dessen Art, so zu tun, als würde er alles wissen, abgestoßen. Wie einfach dieser Antworten auf die komplexesten Fragen fand! Es stimmt, dass auch Engels dazu neigte, übereilt Verallgemeinerungen zu formulieren; doch im Gegenzug hatte er die Flügel und den Blick eines Adlers, und mit den Jahren eignete er sich die kompromisslose wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit, die schon Marx auszeichnete, auch selbst an. Doch Kautsky blieb trotz all seiner Fähigkeiten stets ein Mann der Goldenen Mitte.

„Neun Zehntel der deutschen heutigen Schreiberei ist Schreiberei über andre Schreiberei.“ (S. 139) Mit anderen Worten: Es mangelte an Analysen der lebendigen Realität und an einer fortschrittlichen Bewegung des Denkens. Engels nahm Kautskys Buch zu Fragen der Urgesellschaft zum Anlass, ihm nahezulegen, dass es nur dann möglich sei, auf diesem so breiten und noch zu erhellenden Gebiet etwas wirklich Neues zu sagen, wenn man eine gründliche und erschöpfende Forschung zu diesem Thema betreibt. Und er fügt ziemlich schonungslos hinzu: „Sonst wären Bücher wie Das Kapital viel zahlreicher.“ (S. 85)

Ein Jahr später (am 20. September 1884) rügt Engels Kautsky erneut für dessen „apodiktische Behauptungen auf Gebieten, wo du dich selbst nicht sicher weißt.“ (S. 144) Solche Anmerkungen ziehen sich durch die gesamte Korrespondenz. Indem er Kautsky dafür tadelt, „Abstraktionen“ abzulehnen – ohne die das Denken generell nicht möglich ist – gibt Engels eine klassische Definition, die den Unterschied zwischen einer anregenden und einer leblosen Abstraktion aufzeigt: „Marx faßt in den Dingen und Verhältnissen vorliegenden gemeinsamen Inhalt auf ihren allgemeinsten Gedankenausdruck zusammen, seine Abstraktion gibt also nur in Gedankenform den schon in den Dingen liegenden Inhalt wieder. Rodbertus dagegen macht sich einen solchen mehr oder weniger unvollkommnen Gedankenausdruck, und mißt die Dinge an diesem Begriff, nach dem sie sich richten sollen.“ (S. 144) Neun Zehntel aller Fehler im menschlichen Denken lassen sich auf diese Formel zurückführen. Elf Jahre später übt Engels in seinem letzten Brief an Kautsky Kritik, in dem er ihm zwar gebührende Anerkennung für seine Forschungsarbeit über die Vorläufer des neueren Sozialismus zollt, ihn aber für seinen Hang zum „Gemeinplätzlichen, wo eine Lücke im Studium vorlag“ rügt. „Im Style fällst Du – um populär zu bleiben – bald in den Leitartikel bald in den Schulmeister.“ (S. 388) Man kann die literarischen Angewohnheiten von Kautsky nicht treffender zum Ausdruck bringen!

Er las für gewöhnlich die wichtigsten Artikelentwürfe des sehr produktiven Kautsky und jeder seiner Kritik-Briefe beinhaltet wertvolle Vorschläge, die das Ergebnis ernsthaften Nachdenkens und manchmal auch eigener Forschungsarbeit sind. Kautskys bekanntes Werk „Die Klassengegensätze von 1789“, das in fast alle Sprachen der zivilisierten Menschheit übersetzt wurde, scheint ebenfalls durch das intellektuelle Labor von Engels gegangen zu sein. Sein langer Brief über die sozialen Gruppierungen in der Epoche der großen Revolution des 18. Jahrhunderts – wie auch zur Anwendung der materialistischen Methode auf geschichtliche Ereignisse – gehört zu den großartigsten Dokumenten des menschlichen Geisteslebens. Es handelt sich um einen zu gedrängten Text, und jede darin enthaltene Formel setzt ein viel zu großes Wissen voraus, als dass er weite Verbreitung finden könnte; doch dieses Dokument, das so lange nicht zugänglich war, wird stets nicht nur eine Quelle theoretischer Schulung bleiben, sondern wird auch allen, die sich ernsthaft mit der Dynamik der Klassenbeziehungen in einer revolutionären Epoche sowie mit den generellen Problemen im Zusammenhang mit der materialistischen Interpretation geschichtlicher Ereignisse auseinandersetzen wollen, eine ästhetische Freude bescheren.

Kautskys Scheidung und sein Konflikt mit Engels

Kautsky behauptet – und nicht ohne Hintergedanken, wie wir noch sehen werden – dass sich Engels durch schlechte Menschenkenntnis auszeichnete. Marx war zweifelsohne der bessere „Menschenfischer“. Er konnte weit besser mit den starken und schwachen Seiten anderer Menschen umgehen, was er im Zuge seiner ziemlich schwierigen Arbeit im äußerst heterogenen Generalrat der Ersten Internationale unter Beweis stellte. Aber Engels‘ Korrespondenz ist der unumstößliche Beweis, dass sich sein nicht immer sehr glückliches Verhalten in persönlichen Beziehungen aus seiner stürmischen Direktheit und nicht aus einer mangelnden Menschenkenntnis ergab. Kautsky, der in Fragen der Psychologie selbst sehr kurzsichtig ist, führt als konkretes Beispiel Engels sture Verteidigung von Edward Aveling, dem Lebensgefährten der Marx-Tochter Eleanor, an. Aveling hatte zweifelsohne seine Stärken, die aber nicht auf dem Gebiet des Menschlichen lagen. Vorsichtig, aber sehr nachdrücklich, versucht Kautsky die Ansicht zu verbreiten, dass Engels ihm gegenüber keine psychologische Sensibilität an den Tag legte. Das ist der wahre Grund, warum er Engels Fähigkeit zur Beurteilung von Menschen in Frage stellt.

Sein ganzes Leben lang zeichnete sich Engels durch eine besonders zuvorkommende Haltung gegenüber Frauen aus, da diese doppelt unterdrückt sind. Dieser Weltbürger mit seiner enzyklopädischen Bildung war mit einer einfachen Textilarbeiterin, einem irischen Mädchen, verheiratet. Und nach ihrem Tod lebte er mit ihrer Schwester zusammen. Seine liebevolle Beziehung zu den beiden war wirklich bemerkenswert. Marx‘ unpassende Reaktion auf den Tod von Mary Burns, Engels erster Frau, ließ einen ersten Schatten über ihrer Beziehung aufziehen, doch nach allem, was wir wissen, gab es sonst keine Vorkommnisse, die ihre 40-jährige Freundschaft belasteten. Gegenüber den Töchtern von Marx verhielt sich Engels, als wären sie seine eigenen Kinder. Zu einer Zeit, als Marx, scheinbar nicht ohne Einflussnahme seiner Frau, versuchte, sich in das Gefühlsleben seiner Töchter einzumischen, gab ihm Engels vorsichtig zu verstehen, dass solche Angelegenheiten niemanden etwas angehen, außer die unmittelbar Beteiligten selbst. Engels fühlte sich der jüngsten Tochter von Marx, Eleanor, besonders verbunden. Sie ging mit Aveling eine Beziehung ein; er war ein verheirateter Mann, der seine erste Familie verlassen hatte. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass sich rund um das „unrechtmäßige“ Paar die Stickigkeit der wahren britischen Heuchelei breitmachte. Ist es erstaunlich, dass Engels in Verteidigung Eleanors und ihres Partners, dessen moralischer Eigenschaften ungeachtet, ausrückte? Eleanor kämpfte für ihre Liebe zu Aveling, solange sie die Kraft dafür aufbringen konnte. Engels war nicht blind, doch er war der Ansicht, dass die Frage von Avelings Persönlichkeit in erster Linie Eleanor selbst beurteilen müsse. Von seiner Seite sah er es nur als seine Pflicht, sie gegen Heuchelei und üble Gerüchte in Schutz zu nehmen. „Hände weg!“ hielt er den frömmelnden Heuchlern standhaft entgegen. Letztendlich war Eleanor nicht mehr imstande, mit den Schlägen, die ihr das Leben versetzte, fertig zu werden und beging Selbstmord.

Kautsky bezieht sich auch auf die Tatsache, dass Engels Aveling in politischen Angelegenheiten ebenfalls unterstützte. Doch dies lässt sich ganz einfach damit erklären, dass Eleanor, wie auch Aveling, politisch direkt unter seiner Anleitung arbeiteten. Zwar führte diese Aktivität nicht zu den erwünschten Resultaten, doch die Arbeit ihres Gegenspielers Hyndman, den Kautsky weiterhin unterstützte, erlitt ebenfalls Schiffbruch. Die Ursache für das Scheitern dieser ersten marxistischen Organisationsversuche muss in den objektiven Bedingungen im damaligen England gesehen werden, die Engels selbst so treffend dargelegt hat. Engels‘ persönlicher Gegensatz zu Hyndman ergab sich insbesondere aus dessen hartnäckiger Ausdauer, wenn es darum ging, den Namen von Marx zu übergehen, was er damit rechtfertigte, dass die Engländer keine ausländischen Autoritäten akzeptieren würden. Engels jedoch hegte den Verdacht, Hyndman selbst sei „der chauvinistischste John Ball, den es gibt“ (S. 140). Kautsky versucht Engels‘ Vermutung in diesem Punkt zu entkräften, als ob Hyndman durch sein schändliches Verhalten im Krieg – worüber Kautsky kein Wort verliert! – seinen niederträchtigen Chauvinismus nicht offen zur Schau gestellt hätte. Um wie viel klarer sah Engels auch in diesem Fall!

Das wichtigste Beispiel für Engels „Unfähigkeit“ bei der Beurteilung von Menschen bezieht sich auf Kautskys eigenes Privatleben. In dem nun veröffentlichten Briefwechsel nimmt das Thema von Kautskys Scheidung von seiner ersten Frau einen beachtlichen, wenn nicht den zentralen Platz ein. Dieser heikle Umstand war zweifelsohne ausschlaggebend dafür, dass Kautsky so lange die alten Briefe nicht öffentlich gemacht hatte.
Das junge Ehepaar Kautsky lebte mehr als sechs Jahre in London in ständiger und ungetrübter Gemeinschaft mit Engels und seinem familiären Umfeld. Den General hat es wortwörtlich umgehauen, als er fast unmittelbar nach deren Ankunft auf dem Kontinent die Nachricht vom Scheidungsverfahren von Karl und Louise Kautsky erhielt. Die engsten Freunde wurden nun wohl oder übel zu den moralischen Schiedsrichtern in diesem Konflikt. Engels stellte sich umgehend und bedingungslos auf Louises Seite und blieb bis zu seinem Tod bei dieser Position.

In einem Brief von 17. Oktober 1888 schrieb Engels eine Antwort an Kautsky: „Wenn nun eine Störung so bedeutend war… daß du ernstlich die Absicht der Trennung faßtest, so war nach meiner Ansicht nach zu erwägen die Verschiedenheit der Lage von Frau und Mann unter den heutigen Verhältnissen… Daraus folgt, daß der Mann nur im äußersten Fall, nur nach reifer Überlegung, nur in vollster Klarheit über die Notwendigkeit der Sache diesen äußersten Schritt tun darf, und dann auch nur in der rücksichtsvollsten Form.“ (S. 227) Aus dem Munde von Engels, der sich bewusst war, dass Herzensangelegenheiten nur die unmittelbar Betroffenen etwas angehen, klingen diese Worte wie eine unerwartete Moralpredigt. Es ist aber kein Zufall, dass er diese Sätze an Kautsky richtet. Wir sind nicht in der Lage, diesen Ehekonflikt zu analysieren, von dem wir auch nicht alle Seiten kennen. Kautsky selbst ist äußerst zurückhaltend mit Informationen über diese familiäre Angelegenheit, die schon so lange zurückliegt. Aus seinen zugeknöpften Kommentaren muss man aber schließen, dass Engels seinen Standpunkt unter dem einseitigen Einfluss von Louise entwickelte. Doch woher stammte dieser Einfluss? Während der Scheidung blieben beide Seiten in Österreich. Wie im Falle Eleanors weicht Kautsky offensichtlich dem Kern der Sache aus. Seinem ganzen Zugang nach dürfte Engels – bei ansonsten gleichwertigen Umständen – dazu tendiert haben, sich auf die Seite des Benachteiligten zu stellen. Doch es ist offensichtlich, dass in seinen Augen nicht „alle übrigen Umstände“ gleich waren. Dass Louise überhaupt die Möglichkeit gehabt hätte, ihn zu beeinflussen, spricht schon für sie. Auf der anderen Seite gab es in Kautskys Persönlichkeit viele Züge, die Engels ganz klar abstoßend fand. Darüber konnte er still hinwegsehen, solange ihre Beziehung rein auf Fragen der Theorie und der Politik beschränkt blieb. Nachdem er jedoch auf Initiative von Kautsky selbst in diesen persönlichen Streitfall hineingezogen wurde, sprach er offen aus, was er darüber dachte. Die Standpunkte eines Menschen und seine Moral sind, wie wir nur zu gut wissen, nicht immer identisch. In Kautsky, dem Marxisten, erahnte Engels den Wiener Kleinbürger, selbstzufrieden, egoistisch und konservativ. Einer der wichtigsten Maßstäbe für die Persönlichkeit eines Mannes ist seine Haltung gegenüber Frauen. Engels war ganz offensichtlich der Meinung, dass der Marxist Kautsky auf diesem Gebiet noch immer gewisse Gebote bürgerlichen Humanismus nötig hatte. Unabhängig davon, ob Engels richtig oder falsch lag, liegt genau darin die Erklärung für seine Haltung.

Im September 1889, als die Scheidung bereits vollzogen war, schrieb Kautsky, ganz offensichtlich mit dem Wunsch zu zeigen, dass er doch nicht so hartherzig und egoistisch ist, achtlos an Engels, dass er Louise „bedauert“. Doch es war genau dieses Wort, mit dem er sich einen Ausbruch der Empörung einhandelte. Der zornige General donnerte in seiner Antwort: „Louise hat sich in dieser ganzen Sache mit einem solchen Heroismus und einer solchen Weiblichkeit benommen, daß wir alle sie nicht genug bewundern können. Wenn in dieser Angelegenheit überhaupt jemand zu bedauern wäre, so wäre es sicher nicht Louise.“ (S. 248) Diese schonungslosen Worte, die auf eine etwas versöhnlichere Feststellung folgt („Ihr Zwei seid allein kompetent und was Ihr gutheißt, müssen wir Andern acceptiren.“) liefern den Schlüssel zu Engels Haltung in dieser Frage und werfen ein gutes Licht auf seine Persönlichkeit.

Das Scheidungsverfahren zog sich eine ganze Weile lang, so dass sich Kautsky gezwungen sah, ein ganzes Jahr in Wien zu verbringen. Bei seiner Rückkehr nach London im Herbst 1889 wurde er von Engels nicht mehr so herzlich empfangen, wie er es von früher gewohnt war. Außerdem lud Engels fast schon demonstrativ Louise ein, seinen Haushalt zu führen, nachdem dieser seit dem Tod von Helene Demuth verwaist war. Louise heiratete bald darauf ein zweites Mal und lebte mit ihrem Ehemann im Haus von Engels. Schließlich bestimmte Engels Louise zu einer seiner Erbinnen. Der General war nicht nur großherzig, sondern auch unnachgiebig. Am 21. Mai 1895, zehn Wochen vor seinem Tod, schrieb Engels von seinem Krankenbett aus einen Brief an Kautsky, der von seinem Ton her äußerst gereizt und voller unwirscher Vorhaltungen ist. Kautsky schwört, dass diese Vorwürfe zur Gänze unbegründet waren. Mag sein. Doch er erhielt keine Antwort auf seinen Versuch, die Verdächtigungen des alten Manns zu zerstreuen. Am 6. August starb Engels. Kautsky versucht den für ihn so tragischen Bruch zwischen den beiden mit der krankheitsbedingten Gereiztheit seines Lehrmeisters zu erklären. Abseits von den wütenden Vorhaltungen enthält Engels Brief jedoch auch Bewertungen komplexer historischer Fragen, eine wohlwollende Beurteilung von Kautskys letzter wissenschaftlicher Arbeit und lässt generell auf einen äußerst hellen Geisteszustand schließen. Nebenbei bemerkt wissen wir von Kautsky selbst, dass schon sieben Jahre vor dem Bruch ein Wandel in der Beziehung zwischen den beiden erfolgt war, und dass dies in einer Form passierte, die keinen Interpretationsspielraum offen ließ.

Im Januar 1889 hatte es Engels noch immer ernsthaft in Betracht gezogen, Kautsky und Bernstein zu seinen und Marx‘ Nachlassverwaltern zu ernennen. Bald darauf ging er jedoch von dieser Idee ab, was zumindest Kautsky betraf. Er fragte, offensichtlich unter einem Vorwand, ob Kautsky ihm die bereits für die Entzifferung und Transkription übergebenen Manuskripte (Theorien über den Mehrwert) zurückgeben könne. Das passierte im selben Jahr, 1889, als noch kein Gerede von einer krankhaften Gereiztheit war. Wir können nur mutmaßen, aus welchen Gründen Engels Kautsky von der Liste der Nachlassverwalter nahm; doch sie ergeben sich fast zwingend aus den Umständen dieses Falls. Engels selbst sah, wie wir wissen, die Veröffentlichung von Marx‘ literarischem Nachlass als wichtigste Aufgabe seines Lebens. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine ähnliche Haltung bei Kautsky. Der junge und sehr produktive Schreiber war zu sehr mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt, um den Manuskripten von Marx die Aufmerksamkeit zu schenken, die Engels verlangte. Vielleicht hatte der alte Mann die Sorge, dass der produktive Kautsky, bewusst oder unbewusst, einige von Marx‘ Ideen als seine eigenen „Entdeckungen“ verkaufen könnte. Das ist die einzig sinnvolle Erklärung, warum Kautsky durch Bebel ersetzt wurde. Letzterer war von seinem theoretischen Verständnis zwar weit weniger qualifiziert, aber er genoss im Gegensatz zu Kautsky das volle Vertrauen von Engels.

Während wir bislang von Kautsky gehört haben, dass Engels im Gegensatz zu Marx ein schlechter Psychologe war, unterzieht er an einer anderen Stelle seiner Kommentare beide seine Meister dieser Kritik. Er schreibt: „Große Menschenkenner scheinen beide nicht gewesen zu sein.“ (S. 44) Diese Feststellung scheint nicht sehr glaubwürdig, wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie reichhaltig und unvergleichlich präzise die persönlichen Charakterisierungen nicht nur in den Briefen von Marx, sondern auch im Kapital sind. Man kann durchaus sagen, dass Marx imstande war, aus einzelnen Charakterzügen auf die Persönlichkeit eines Menschen zu schließen, so wie Cuvier aus einem einzelnen Kieferknochen ein Tier zu rekonstruieren vermochte. Wenn Marx 1852 den ungarisch-preußischen Provokateur Banya nicht durchschaute – das einzige Beispiel, auf das sich Kautsky bezieht! – ist es lediglich ein Beweis dafür, dass Marx weder ein Hellseher noch ein Hexenmeister war, sondern auch Fehler bei der Einschätzung von Menschen machte, speziell von jenen, die eher zufällig die Bühne betraten. Mit dieser Behauptung versucht Kautsky ganz offensichtlich Marx‘ unvorteilhafter Aussage nach deren erstem und letztem Zusammentreffen zuvorzukommen. Kautsky widerspricht sich selbst, wenn er zwei Seiten später schreibt: „[Dass] Marx die Kunst der Menschenbehandlung sehr gut verstand, zeigte er wohl am glänzendsten im Generalrat der ‚Internationale‘.“ (S. 46) Eine Frage bleibt jedoch: Wie kann jemand einen „glänzenden“ Umgang mit Menschen haben, ohne die Fähigkeit zu besitzen, deren Persönlichkeit zu ergründen? Wie kann man da nicht zu dem Schluss kommen, dass Kautsky Argumente sucht, die ihm erlauben, eine negative Bilanz aus seinem Verhältnis zu seinen Lehrern zu ziehen.

Einschätzungen und Prognosen

Die Briefe von Engels sind reich an Charakterisierungen verschiedener Persönlichkeiten und an prägnanten Einschätzungen von weltpolitischen Ereignissen. Wir werden uns auf einige wenige Beispiele beschränken. „Der paradoxe Belletrist Shaw – als Belletrist sehr talentiert und witzig – als Ökonom und Politiker absolut unbrauchbar.“ (S. 338) Diese Bemerkung aus dem Jahr 1892 hat bis heute seine ganze Aussagekraft bewahrt.

Der bekannte Journalist V. T. Stead wird als „ein ganz verrückter Kerl, aber brillanter Geschäftsmann“ charakterisiert. Zu Sydney Webb merkt Engels kurz und bündig an, dass er „ein echter Britischer politician“ ist. Das war der herbste Begriff in Engels Wortschatz.

Im Januar 1889 schrieb Engels in der Hitze der Wahlkampagne von Boulanger: „Die Wahl Boulangers bringt die Lage in Frankreich zur Krisis. Die Radikalen haben sich zu Knechten des Opportunismus und der Korruption gemacht und damit den Boulangerismus förmlich gezüchtet.“ (S. 231) Diese Worte erscheinen erstaunlich aktuell – man muss nur anstelle von Boulangerismus Faschismus schreiben.

Engels geißelt die Theorie einer „evolutionären“ Transformation vom Kapitalismus zum Sozialismus als das „das frischfrommfröhlichfreie ‚Hineinwachsen‘ der alten Sauerei ‚in die sozialistische Gesellschaft‘“ (MEW, bd. 38, S. 125). Diese epigrammatische Formel greift der Kontroverse voraus, die viele Jahre später in der Arbeiterbewegung geführt werden sollte.

In demselben Brief zerreißt Engels die Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten Vollmar: „Vollmars Rede mit ihrem ganz überflüssigen Entgegenkommen gegen die jetzigen Offiziellen und ihren noch überflüssigeren und obendrein unautorisierten Versicherungen, die Sozialdemokraten würden mitmachen, wenn das Vaterland angegriffen würde – würden also die Annexion von Elsaß-Lothringen Verteidigen helfen –, hat hier und in Frankreich bei unsern Gegnern helle Freude erregt.“ (MEW, Bd. 38, S. 126) Engels verlangte, dass sich die führenden Zeitungen der Partei öffentlich von Vollmar distanzieren. Während des Großen Krieges, als die Sozialpatrioten Engels Namen auf jede nur erdenkliche Weise missbrauchten, kam es Kautsky nie in den Sinn, diese Zeilen zu veröffentlichen. Warum sich groß Gedanken machen? Der Krieg sorgte auch so für genügend Kummer.

Am 1. April 1895 protestierte Engels gegen die Art und Weise, wie im Vorwärts, dem Zentralorgan der Partei, sein Vorwort zu Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich ausgelegt wurde. Durch Auslassungen sei der Artikel derart verzerrt worden, schäumte Engels, „daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même (unter allen Umständen, Anm.) dastehe.“ (MEW, Bd. 39, S. 452) Er verlangt, dass dieser „schmähliche Eindruck“ (S. 383) – koste es, was es wolle – beseitigt wird. Engels, der zu dem Zeitpunkt auf seinen 75. Geburtstag zuging, war ganz offensichtlich noch nicht bereit, dem revolutionären Enthusiasmus seiner Jugend abzuschwören.

Wenn man über all die Fehleinschätzungen von Engels in Bezug auf andere Personen spricht, dann sollte man als Beispiele nicht Aveling, den Schmutzfink in persönlichen Angelegenheiten, oder den Spion Banya anführen, sondern die herausragenden Führer des Sozialismus: Victor Adler, Guesde, Bernstein, Kautsky selbst und viele andere. Sie alle haben ohne Ausnahme seine Erwartungen verraten – auch wenn wir klar sagen müssen, dass dies erst nach seinem Tod passierte. Doch genau die Tatsache, dass dieser Fehler so allumfassend war, ist der Beweis, dass es sich hierbei nicht um Probleme der individuellen Psychologie handelte.

1884 schrieb Engels mit Bezug auf die deutsche Sozialdemokratie, die schnelle Erfolge erzielte, dass sie eine Partei sei, die „frei von allem Philisterthum im philiströsesten, frei von allem Chauvinismus im siegestrunkensten Land Europas“ (S. 154) war. Der weitere Lauf der Dinge zeigte, dass sich Engels die zukünftige revolutionäre Entwicklung zu sehr als geradlinigen Prozess vorgestellt hatte. Vor allem hat er den kraftvollen kapitalistischen Aufschwung, der unmittelbar nach seinem Tod einsetzte und bis zum Vorabend des imperialistischen Krieges andauerte, nicht vorhergesehen. Es war genau in diesen 15 Jahren wirtschaftlicher Hochblüte, in denen die vollständige opportunistische Degeneration der führenden Kreise der Arbeiterbewegung vonstattenging. Diese Degeneration zeigte sich im Krieg in vollem Ausmaß, und in letzter Instanz führte sie zur schändlichen Kapitulation vor dem Nationalsozialismus.

Kautsky zufolge war Engels schon damals, in den 1880er Jahren, angeblich der Meinung, die deutsche Revolution „werde zuerst die bürgerliche Demokratie ans Ruder bringen und dann erst die Sozialdemokratie“. Im Gegensatz dazu schrieb Kautsky: „Ich nehme an, die nächste deutsche Revolution könne nur noch eine proletarische sein.“ (S. 190) Das Bemerkenswerte in Verbindung zu dieser alten Meinungsdifferenz, die kaum jemals korrekt wiedergegeben wurde, ist, dass Kautsky es nicht schafft, überhaupt die Frage aufzuwerfen, was die deutsche Revolution von 1918 wirklich war. Denn in diesem Fall müsste er sagen: Diese Revolution war eine proletarische Revolution; sie legte unmittelbar die Macht in die Hände der Sozialdemokratie; doch die Sozialdemokratie gab die Macht, mit der Unterstützung von Kautsky selbst, der Bourgeoisie zurück. Diese war jedoch unfähig, die Macht auszuüben und musste Hitler zu Hilfe rufen.

Die historische Wirklichkeit ist unendlich reicher an Optionen und Übergangsstadien, als es das größte Genie sich vorstellen könnte. Der Wert politischer Prognosen liegt nicht darin, dass diese mit jeder Stufe der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern darin, dass sie eine Hilfestellung bieten, den wahren Lauf der Entwicklung zu verstehen. Von diesem Standpunkt aus hat Friedrich Engels den Test der Geschichte bestanden.

SCHLIESS DICH DEN KOMMUNISTEN AN!

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