Der dialektische Materialismus, die Philosophie des Marxismus, steht am höchsten Punkt einer langen Entwicklung der Philosophie. Um seine revolutionäre Bedeutung zu verstehen, müssen wir seine Geschichte verstehen. Teil 2: Der bürgerliche Materialismus und seine Grenzen. Hier geht es zu Teil 1.
Der Marxismus ist eine materialistische Philosophie. Er erklärt die Natur und die Gesellschaft aus sich selbst heraus und anerkennt keine höheren geistigen Kräfte, welche die Welt antreiben. Wir werden in dieser Artikelserie zeigen, dass der Marxismus den Materialismus erstmals zu seiner vollen Schlüssigkeit gebracht hat. Er ist die höchste Blüte einer langen Entwicklung, in der sich die Philosophie, wie die Menschheit insgesamt, in einer spiralförmigen Bewegung vom Niederen zum Höheren hocharbeitet.
Philosophische Waffe gegen Kirche und Feudalismus
Im ersten Teil haben wir gesehen, wie die Philosophie und mit ihr der erste Materialismus im antiken Griechenland entstand: als Produkt der beginnenden Zivilisation und der Warenproduktion, getragen von einer neuen Händlerklasse in Abgrenzung von den barbarischen Stammesgesellschaften. Der Niedergang der antiken griechisch-römischen Hochkultur hatte den Materialismus in Europa für über ein Jahrtausend begraben. Der Idealismus der katholischen Kirche wurde für Jahrhunderte zur dominierenden Form, in der sich die Welt des Denkens und des Wissens bewegte.
Der Materialismus kam mit dem Anbruch der bürgerlichen Gesellschaft im Schoße des westeuropäischen Feudalismus in einer neuen Form wieder auf. Der bürgerliche Materialismus ist Ausdruck und Produkt der gigantischen Umwälzungen, die vor allem seit Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einen Bereich der Gesellschaft nach dem anderen – Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Politik und Recht – revolutionierten und schließlich im Durchbruch des Kapitalismus mündeten.
Das Wiederaufblühen des Handels und der Geldwirtschaft bereits ab dem Hochmittelalter führte zu einem neuen Aufstieg der Städte und einer neuen aufstrebenden Klasse: dem städtischen Bürgertum und den Kaufleuten. Das gab den Impuls für riesige Fortschritte in der Naturwissenschaft ab dem 16. Jahrhundert. Figuren wie Kopernikus oder Galilei verkörpern diesen allgemeinen Prozess, durch zahlreiche neue Erkenntnisse und Experimente das göttliche Weltbild zu hinterfragen und durch ein neues, naturwissenschaftliches Weltbild zu ersetzen. Der Zusammenstoß zwischen dem alten religiösen und dem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild war Ausdruck des Klassenwiderspruchs, in den die aufstrebende Bourgeoisie mit dem herrschenden Adel und der Kirche kam.
Der neue Materialismus war die philosophische Ausarbeitung dieses Standpunktes der Naturwissenschaften. Francis Bacon, der «Stammvater des britischen Materialismus» (Marx), und die englischen «Empiristen» in seiner Folge nahmen den Kampf auf gegen die idealistische Scholastik des Mittelalters. Für diese bewies sich die Wahrheit rein innerhalb der religiösen Schriften und der Köpfe der Philosophen – ohne jede sinnliche Beziehung zur wirklichen Außenwelt. Bacon erklärte dagegen, dass unser Wissen über die außer uns existierende Welt uns durch die Sinneswahrnehmung zukommt. Über den britischen Empirismus kam der Materialismus nach Frankreich, wo der bürgerliche Materialismus im 18. Jahrhundert seine radikalste Form annahm.
Dieser Materialismus war die philosophische Waffe der aufstrebenden Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen Feudalismus und Absolutismus, die sich als ewige göttliche Ordnung legitimierten.
Grenzen der bürgerlichen Auffassung der Natur
Der bürgerliche Materialismus konnte sich auf die enormen Fortschritte in den Naturwissenschaften stützen. Er stellt damit gegenüber dem antiken eine klar höhere Form des Materialismus dar. Aber in einer beispielhaften dialektischen Verkehrung, stellt gerade das, was gegenüber dem antiken Materialismus den größten Fortschritt ausmacht, auch einen Rückschritt dar: Engels erklärt in einer wunderbaren Passage im Anti-Dühring, wie die antiken Griechen «geborene, naturwüchsige Dialektiker» waren. Sie richteten den Blick auf die allgemeinen Zusammenhänge, in denen sich die Dinge verändern. Aber durch den noch beschränkten Stand der Technologie und der Wissenschaft, vermochten sie es noch nicht, die Einzelheiten einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Umgekehrt der bürgerliche Materialismus: Die Naturwissenschaften hatten seit dem Ausgang des Mittelalter riesige Fortschritte gemacht, indem sie die Natur in ihre einzelnen Teile zerlegte und untersuchte. «Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand; nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände; nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod.» Übertragen in die Philosophie blieb diese undialektische Anschauungsweise völlig unfähig, die Dinge als Prozess, das heißt historisch anzuschauen. So musste sie dieser lebendigen Welt in permanenter Veränderung ihre starren, ewig gleichbleibenden Kategorien gewaltsam von außen aufdrücken.
Der bürgerliche Materialismus hatte noch eine zweite, eng damit verbundene Beschränktheit. Er war «mechanisch», aus dem einfachen Grund, dass die mechanische, newtonsche Physik damals die einzige entwickelte Naturwissenschaft war. Die Zweige der Naturwissenschaften, die Entwicklungen und Übergänge von einem Zustand in einen anderen begriffen (wie die Chemie, die Zellbiologie, die Wärmelehre oder die Evolutionstheorie Darwins), entwickelten sich erst im 19. Jahrhundert. So übertrug der bürgerliche Materialismus die Vorstellungen der Mechanik auf alle Bereiche des Lebens. Er stellte sich die Welt vor wie ein riesiges Uhrwerk, in dem jedes Teilchen aufs andere einwirkt, ohne dadurch selbst verändert zu werden. Die Materie ist fundamental träge und passiv. Sie bewegt sich nur, wenn ein äußerer Impuls sie anstößt. Einmal angestoßen, läuft das Uhrwerk im immergleichen Zyklus und kennt damit keine wirkliche Entwicklung und Veränderung. Diese Auffassung, so materialistisch und deterministisch sie in der Erklärung der Naturgesetze war, implizierte einen vor der Natur existierenden Gott, der das Uhrwerk durch einen Erstimpuls in Bewegung setzte.
Dieser bürgerliche Materialismus, der angetreten war gegen die dogmatischen idealistischen Vorstellungen der Kirche von ewigen absoluten Wahrheiten, verfällt so letztlich selbst in die plattesten Abstraktionen. Er betrachtet die Dinge unabhängig von Raum und Zeit und damit als ewig gleichbleibend.
Abstrakter Mensch: Der Materialismus verkehrt sich in Idealismus
Die Beschränktheit und die Inkonsequenz des mechanischen Materialismus wird umso schlagender, wo die Menschen und die Gesellschaft ins Spiel kommen. Hier rächt sich die ahistorische Auffassung und verkehrt den Materialismus vollends in Idealismus.
Als Materialisten erkannten sie den Menschen korrekterweise als Produkt und Teil der Natur. Die Ideen und das Verhalten der Menschen sind nur Produkt der Einwirkungen der äußeren, objektiven Welt auf die Sinne der Menschen. So erklärten sie: Die Menschen werden von den Umständen zu dem gemacht, was sie sind. Wenn die Menschen sich moralisch schlecht und unvernünftig verhalten? Dann müssen die Umstände verändert und nach den Geboten der Vernunft eingerichtet werden! «Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten.» (Engels) Das ist der unverkennbar revolutionäre Charakter dieser Auffassung zu einer Zeit, als der entstehende Kapitalismus gegenüber dem Feudalismus den historischen Fortschritt bedeutete und die Bourgeoisie damit effektiv noch revolutionär war.
Aber hier verstrickte sich der bürgerliche Materialismus in einen für ihn unlösbaren Widerspruch. In seiner mechanischen, undialektischen Auffassung existiert der Mensch nur als passives und isoliertes Objekt der Natur, nicht als arbeitendes und in der Geschichte handelndes gesellschaftliches Wesen. Aber isolierte Menschen hat es nie gegeben und, wie Franz Mehring erklärt, müssen wir nicht nur davon ausgehen, dass die Menschen in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft leben. Der bürgerliche Materialismus konnte nicht verstehen, dass diese «Umstände», die den Menschen prägen und die er zu seinem Ausgangspunkt der Kritik machte, gesellschaftliche Umstände sind, die geschichtlich entstanden sind und von den arbeitenden Menschen selbst hervorgebracht werden.
Die Frage, welche Gesetzmäßigkeiten die Geschichte regieren, musste von diesem Standpunkt aus ein unlösbares Rätsel bleiben. Wenn die Menschen passive Objekte der Natur und der Umstände sind, wenn diese Umstände einfach fertig gegeben sind (man weiß nicht von wem und woher), wie können diese Umstände dann kritisiert und verändert werden? Dem bürgerlichen Materialismus blieb nur die Flucht ins losgelöste Reich der Ideen: Es galt, durch die Vernunft zu erkennen, wie «gute» und «gerechte» gesellschaftliche Einrichtungen auszusehen haben und die Erziehung der Menschen entsprechend zu verändern. Über die materielle, gesellschaftliche Grundlage seiner eigenen Gebote der Moral und der Vernunft wusste dieser inkonsequente Materialismus nicht das Geringste zu sagen. Gestartet vom fundamental materialistischen Standpunkt, dass die Menschen Produkt ihrer Umstände sind, landete der bürgerliche Materialismus wieder auf dem Kopf und erklärte, dass die Ideen der Antrieb der Geschichte sind – also beim Idealismus.