Die nationale Frage in der Ukraine

Die Geschichte der heutigen Ukraine ist eine Geschichte der Unterwerfung und Befreiung. Im Revolutionsjahr 1917 wurde die ukrainische Nation erstmals anerkannt. Die stalinistische Konterrevolution unterdrückte die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung und stärkte damit die separatistischen Kräfte. Am Ende dieser Entwicklung steht der Zerfall der Sowjetunion.

In seiner Rede vom 21. Februar begründete Putin die kriegerische Expansionspolitik mit dem Hinweis, Lenin hätte die Ukraine gegen den Willen der Bevölkerung von Russland losgelöst. Die Ukraine sei eigentlich Teil der russischen Geschichte und Kultur. Damit stellt er sich in die Tradition des russischen Zarismus, der seine Herrschaft durch die Unterdrückung der Nationalitäten jahrhundertelang aufrechterhielt. Aber auch die Gegenposition ist fatal, die sich in der Annahme verdichtet, die nationale Unabhängigkeit der Ukraine sei nur unter der Schirmherrschaft des westlichen Imperialismus möglich.

Unterdrückung der Nationalitäten im Zarismus

Jahrhundertelang war das Gebiet der heutigen Ukraine ein zerrissenes Grenzland. Die wechselhafte Geschichte der Region, die unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches, Polen-Litauens, der Habsburgermonarchie und des russischen Zarenreichs gestanden war, ist eine Geschichte der Unterdrückung, die mit dem Revolutionsjahr 1917 abrupt endete. Zum ersten Mal wurde die ukrainische Nation anerkannt.

Der ukrainische Nationalismus wurzelt tief. Er entstand in Reaktion auf den großrussischen Chauvinismus, der sich auch in Teilen der russischen Arbeiterbewegung ideologisch festsetzte. Lenin und Trotzki setzten diesen nationalen Strömungen eine politische Linie entgegen, die die Einheit der Nationalitäten im gemeinsamen Kampf um den Sozialismus sicherstellen sollte. Lenin wollte, wie er schrieb, mit der „verfluchten zaristischen Vergangenheit brechen, die alles getan hat, um die ihrer Sprache, ihrem Wohnsitz, ihrem Charakter und ihrer Geschichte nach so nahe verwandten Völker einander zu entfremden.“

In seinen „Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage“ (1913) erläuterte Lenin seinen Zugang zur Nationalitätenfrage in der Ukraine. Der berechtigte und nachvollziehbare Wunsch der ukrainischen Bevölkerung nach nationaler Selbstständigkeit ist zu respektieren, doch ist die „Gegenüberstellung der ukrainischen Kultur in ihrer Totalität und der großrussischen Kultur ebenfalls in ihrer Totalität der schamloseste Verrat an den Interessen des Proletariats zugunsten des bürgerlichen Nationalismus.“ Gegen diesen Nationalismus musste ein erbarmungsloser Kampf geführt und die gemeinsame, nationalitätenübergreifende Kultur der Arbeiterklasse verteidigt werden. Das war umso wichtiger, als die Arbeiterbewegung sowohl in der Ukraine als auch in Russland unter den Einfluss nationalistischer Strömungen geriet. Lenin betonte:

„Wenn sich ein ukrainischer Marxist von dem ganz berechtigten und natürlichen Hass gegen die großrussischen Unterdrücker so weit hinreißen lässt, dass er auch nur einen Teil dieses Hasses oder auch nur den Geist der Entfremdung auf die proletarische Kultur und die proletarische Sache der großrussischen Arbeiter überträgt, so wird dieser Marxist dadurch in den Sumpf des bürgerlichen Nationalismus hinab gleiten. Ebenso wird ein großrussischer Marxist in den Sumpf nicht nur des bürgerlichen sondern auch des Nationalismus der [faschistischen, Anm.] Schwarzhunderter hinab gleiten, wenn er auch nur für eine Minute die Forderung der vollen Gleichberechtigung der Ukrainer oder ihr Recht auf die Bildung eines selbständigen Staates vergessen wird.“

Die nationale Frage

Der Zarismus nährte in der ukrainischen Bevölkerung jahrhundertelang den Hass gegen Russland. Damit stärkte er zugleich die nationale Unabhängigkeitsbewegung. Die nationale Frage verdiente in der Ukraine also besondere Beachtung. Von den internationalen Arbeiterparteien, auch von Rosa Luxemburg, wurde sie hingegen als Hindernis, ja als „Erfindung einer Handvoll Intellektueller“ betrachtet. „Daher die beständigen opportunistischen Versuche, dieser Frage auszuweichen, sie zu unterdrücken, mit Stillschweigen zu übergehen oder in eine unbestimmte Zukunft zu verschieben“, erinnerte sich Trotzki 1939. Ohne die Beantwortung der nationalen Frage wäre die Revolution in der Ukraine allerdings gescheitert.

Das Programm der Bolschewiki beinhaltete das Recht auf nationale Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf freie Loslösung von Russland. Dieses Zugeständnis war ein wesentliches Element für den Sieg der Oktoberrevolution und später für den Aufbau der Sowjetunion, die zu Lenins Zeiten eine freiwillige Vereinigung von Nationalitäten bildete. Die Bauernschaft, die in der Ukraine ein besonders großes soziales Gewicht hatte, und die unterdrückten Nationalitäten konnten für die sozialistische Revolution nur unter Berücksichtigung demokratischer Fragen, nämlich der Nationalitätenfrage und des Agrarproblems, gewonnen werden. Dadurch erhielt die Revolution einen kombinierten Charakter.

Zentralismus oder Unabhängigkeit?

Nach der Oktoberrevolution 1917 bildete sich eine ukrainische Republik, die jedoch bald schon in Abhängigkeit von Berlin geriet. Im letzten Kriegsfrühling 1918 spitzte sich der Konflikt mit dem deutschen Imperialismus dramatisch zu. Am 3. März unterzeichnete Sowjetrussland den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, in dem es zu großen Zugeständnissen gezwungen war. Auch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages stellte Deutschland die Feindseligkeiten nicht ein und besetzte Kiew, die Nordküste des Schwarzen Meeres sowie Odessa und marschierte in Richtung des Donez-Kohlebeckens. Wilhelm Habsburg-Lothringen, der habsburgische Thronkandidat für einen ukrainischen Satellitenstaat, versuchte damals, König der Ukraine zu werden.

Es folgte ein brutaler Bürgerkrieg gegen die Konterrevolution (die „Weißen“), die von 21 ausländischen Interventionsarmeen unterstützt wurde. 1921 fielen durch den Frieden von Riga die westlichen Gebiete der heutigen Ukraine an Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei. Der übrige Teil wurde nach dem militärischen Sieg der Roten Armee über die „Weißen“ eine ukrainische Sowjetrepublik, die Teil der UdSSR werden sollte. Lenin vertrat die Auffassung, dass die ukrainische Bevölkerung nur durch ihre eigene Erfahrung zu dem Schluss gelangen könne, ob eine Eingliederung in die neue Föderation oder eine Loslösung in ihrem Interesse lag.

Schon in seinem „Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine“ von 1919 betonte Lenin, „daß nur die ukrainischen Arbeiter und Bauern selbst […] die Frage entscheiden können und entscheiden werden, ob die Ukraine mit Rußland verschmelzen oder ob sie eine selbständige und unabhängige Republik bleiben soll, und welcher Art im letzteren Fall die föderative Verbindung zwischen ihr und Rußland sein soll.“ Das nächste Ziel war ein „freiwilliges Bündnis der Nationen“.

Die Frage nach der nationalen Grenzziehung war keine prinzipielle, sondern eine der revolutionären Zielsetzung nachgeordnete Frage: „Die Frage aber, wie die Staatsgrenzen heute, zeitweilig – denn wir erstreben die völlige Aufhebung der Staatsgrenzen – festzulegen sind, ist keine grundlegende, keine wichtige, ist eine untergeordnete Frage. Mit dieser Frage kann und muß man warten, denn das nationale Mißtrauen hält sich in der breiten Masse der Bauern und Kleinbesitzer oft äußerst zäh, und durch zu große Eile kann man es stärken, das heißt der Sache der völligen und endgültigen Einheit Schaden zufügen.“ Gerade dieses Misstrauen sollte allerdings in der nächsten Etappe der Geschichte ins Unermessliche gesteigert werden.

Stalinismus stärkt die separatistischen Kräfte

Bereits 1922 entbrannte eine Debatte über die Rechtsform der UdSSR. Als Volkskommissar für Nationalitätenfragen vertrat Stalin schon Anfang der 1920er Jahre die am meisten zentralistische und bürokratische Tendenz. Lenin kritisierte Stalins „quasi-imperialistische Haltung gegenüber den unterdrückten Nationalitäten“ und stellte klar, dass es sich um einen Zusammenschluss unabhängiger Republiken und nicht um eine Eingliederung dieser Gebiete in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (SFSR) handelte. Der Föderalismus der Sowjetverfassung war ein Kompromiss zwischen den zentralistischen Bedürfnissen der künftigen Planwirtschaft und den dezentralistischen Bedürfnissen der unterdrückten Nationalitäten.

Der ultralinke Kurswechsel unter Stalin im Jahr 1928 brachte auf wirtschaftlichem Terrain eine übereifrige Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Darauf folgten große Hungersnöte, die Millionen Opfer forderten. Die Entfremdung vom Kreml schritt fort und die ukrainische Nationalbewegung gewann wieder an Zugkraft. Stalin reagierte mit Säuberungen und Repressionen. „Nirgendwo nehmen Freiheitsbeschränkungen, Säuberungen, Repressalien und überhaupt alle Formen des bürokratischen Gangstertums solche Ausmaße an als in der Ukraine im Kampfe gegen das mächtige, tief eingewurzelte Sehnen der ukrainischen Massen nach größerer Freiheit und Unabhängigkeit“, schrieb Trotzki 1939.

Diese Situation bewirkte eine schroffe Abkehr der Arbeiterklasse und Bauernschaft in der Westukraine von der Sowjetunion. Die ukrainische Nationalbewegung entglitt den Händen der Arbeiterbewegung und stärkte die separatistischen Losungen der Klerikalen und Nationalsozialisten; „ohne die Vergewaltigung der Sowjetukraine durch die stalinistische Bürokratie würde es keine Hitlersche ukrainische Politik geben“, brachte es Trotzki auf den Punkt.

Eine revolutionäre Perspektive musste von diesen Tatsachen ausgehen. Die Arbeiterklasse musste sich wieder das Vertrauen der Bauernschaft erarbeiten; was unter den damaligen Bedingungen nur mehr durch einen Bruch mit der bürokratisch degenerierten Sowjetunion und der vorbehaltlosen Anerkennung der Unabhängigkeit gelingen konnte. Trotzki unterstützte daher die Losung nach einer vereinigten, freien und unabhängigen Sowjetukraine. Gleichzeitig war die Unabhängigkeit aber nur auf revolutionärem Weg durchsetzbar; die ukrainischen Nationalisten aber stellten sich in den Dienst des deutschen Imperialismus.

Mit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion wurde ein reaktionärer Ultranationalismus wirkmächtig. Stepan Bandera, der Führer dieser Bewegung, kollaborierte mit Nazi-Deutschland und erhoffte sich auf diesem Weg die Erlangung der Unabhängigkeit. Bandera und seine Organisation beteiligten sich an unzähligen Kriegsverbrechen. Heute wird er vor allem im Westen der Ukraine als Nationalheld verehrt.

Erst mit dem Zerfall der UdSSR 1991 wurde die Ukraine ein souveräner Staat. Die Staatswerdung war mit großen Hoffnungen auf Demokratie, Freiheit und Wohlstand verbunden. Diese Traumblase zerplatzte schnell. Die widersprüchliche Entwicklung – Wirtschaftskrisen, eine in Europa beispiellose Armut, Herausbildung einer nationalen Oligarchie, imperialistische Avancen – erreicht ihren tragischen Höhepunkt in diesen Kriegstagen.

Bild: „Ukrainer und Russen haben einen Schrei – auf dass kein Herr über dem Arbeiter sei!“ – Vladimir Mayakovsky, AgitProp-Plakat von 1920

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