Opportunismus und Sektierertum sind zwei Seiten einer Medaille. Beide müssen bekämpft werden, wenn das Programm des revolutionären Marxismus zu einer Massenkraft werden soll. Dazu muss dieses sich mit den Zielen und der Bewegung der Arbeiterklasse verbinden, wie unsere Schwesterzeitung Socialist Revolution erklärt. Der Text wurde am 18. Oktober 2019 in den USA veröffentlicht.
Die Arbeit der IMT und unser Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit nimmt weltweit zu. Die meisten anderen linken Organisationen befinden sich in der Krise und viele von ihnen verschwinden ganz. Die beständige, weitgehend unbemerkte Arbeit, die wir in den USA die letzten zwei Jahrzehnten geleistet haben, beginnt nun Früchte zu tragen. Der Lohn unserer kollektiven harten Arbeit ist ein wachsender Zustrom von Kontakten und Mitgliedern. Wir haben das Potenzial, in den kommenden Jahren noch schneller zu wachsen.
Unsere Erfolge machen uns aber auch zu einer Zielscheibe für Reformisten und Sektierer. Wir lassen uns davon anspornen, dass wir Thema unserer politischen Gegner sind. Denn das ist ein Beweis dafür, dass wir die richtige Balance finden. Und wir können erwarten, dass sich ihre Angriffe und Verleumdungen – in der realen Welt, den sozialen Medien, der Öffentlichkeit und im Verborgenen – nur noch verstärken werden. In diesem Zusammenhang müssen wir einen Versuch einer linksradikalen Sekte (Internationalist Group, eine Splittergruppe der berüchtigten „Spartacist League“) analysieren, die US-Sektion der IMT zu infiltrieren.
Marxisten stehen für ehrliche, offene, konstruktive und solidarische Debatten ein. Wir könnten nicht als eine lebendige, dynamische Organisation funktionieren, wenn nicht von Zeit zu Zeit Differenzen entstünden und wenn wir sie nicht nutzen würden, um unser Verständnis von dieser oder jener Frage zu verfeinern. Wenn Differenzen auftauchen, sollten wir diese ruhig und politisch diskutieren, um die Arbeit der Organisation zu stärken und das politische Niveau aller zu heben.
Unterschiede entstehen manchmal im Laufe der gemeinsamen Arbeit, wenn sich die Bedingungen ändern und neue Phänomene auftreten. Die Genossinnen und Genossen haben auch das Recht, ihre Meinung und Positionen zu ändern. Aber wir müssen mit Augenmaß handeln. Es gibt keinen Grund, defensiv zu werden oder sich in einer bestimmten Position zu verschanzen. In 99 von 100 Fällen wird die Geschichte selbst, nachdem Differenzen geklärt wurden, diese Fragen beantworten und eine zufriedenstellende Lösung liefern.
Leider wurden die Differenzen, die während dem jüngsten Versuchs uns zu infiltrieren, vorgebracht wurden, in typisch sektiererischer Manier weder ehrlich dargestellt noch begründet. Es bestand kein Interesse an einer echten Klärung oder an einer Verbesserung der Arbeit der IMT. Ziel war es, bei so vielen Mitglieder wie möglich zu „punkten“, sie zu verwirren, zu demoralisieren und damit so viele Mitglieder wie möglich abzuwerben. Dies geht eindeutig aus einem Bulletin hervor, das sie zu dieser Frage herausgegeben haben und in dem sie die IMT als „bürokratisch“ bezeichneten (siehe Nachtrag unten).
Aufgrund der ruhigen, politischen und professionellen Art und Weise, wie alle an dieser Episode beteiligten IMT-Genossen damit umgingen, waren die Bemühungen der Sektierer ein totaler Misserfolg. Die IMT verlor nur denjenigen, der bereitwillig als „Speerspitze“ der Intervention diente. Der Genosse entschied sich, das Schiff zu verlassen, lange bevor die politischen Diskussionen abgeschlossen waren.
Am wichtigsten war jedoch, dass die Genossen, die den Prozess dieser Diskussionen durchliefen, ihr politisches Verständnis schärften. Sie gingen umso überzeugter aus der Diskussion heraus, dass die IMT die einzige Organisation ist, die das Erbe der russischen Revolution und des Trotzkismus wirklich repräsentiert.
Die IMT arbeitet normalerweise nicht mit sektiererischen Gruppierungen zusammen, die niemanden außer sich selbst vertreten. In der gegenwärtigen Epoche werden sich jedoch angesichts der Vorherrschaft des Reformismus einige Personen, die von ihm abgestoßen werden, in einem fehlgeleiteten Versuch, „das Ruder in die andere Richtung herumzureißen“, an linksradikale Sekten wenden. Aber Sektierer reißen das Ruder nur in eine Richtung und schießen sich auf ihren linksradikalen Kurs fest.
Damit sich unsere Mitglieder und Leser die nötigen politischen Argumente aneignen können, um diesem linksradikalen Kurs entgegenzutreten, wann immer sie ihm begegnen, glauben wir, dass diese Episode uns eine nützliche Gelegenheit bietet, eine Reihe von politischen und organisatorischen Klarstellungen vorzunehmen.
Vor allem hoffen wir, Klarheit in der Frage der marxistischen Methode zu schaffen. Letztlich geht es hier um die Frage Marxismus gegen Formalismus, Dialektik gegen formale Logik, wissenschaftlicher Sozialismus gegen unwissenschaftlichen Dogmatismus.
Die Bedeutung der Dialektik und der marxistischen Theorie
Revolutionäre Marxisten haben jahrzehntelang gegen den Strom schwimmen müssen. Sie verteidigten unermüdlich das revolutionäre Programm, die Methode, das Banner und die Traditionen des Marxismus. Das Blatt beginnt sich zu wenden, aber wir schwimmen immer noch gegen den Strom des Reformismus.
Das wachsende Interesse am Sozialismus birgt großes Potenzial für die Zukunft. Aber wir müssen auch verstehen, dass in diesem frühen Stadium zwangsläufig verschiedene reformistische Strömungen vorherrschen werden. Eine Konsequenz, dass es keine Tradition von großen Arbeiterparteien und klassenkämpferischen Gewerkschaftsführungen gibt, die einen klaren Weg nach vorne zeigen könnten.
Unsere Aufgabe ist es, Wege zu finden, um die bescheidene Qualität, die wir angesammelt haben, in eine weit größere Quantität zu verwandeln. Der einzige Weg, dies zu erreichen, besteht darin, energisch Wege zu finden, unsere Ideen mit den Bestrebungen der Massen zu verbinden, angefangen bei den fortgeschrittenen Schichten der Gesellschaft.
Dafür müssen wir prinzipientreue Politik mit einer geduldigen Herangehensweise verbinden, um die Verwirrung und die Illusionen zu zerstreuen, die viele Menschen noch immer in bürgerliche und kleinbürgerliche Parteien, Politiker und Ideen setzen. Aber wir dürfen unsere Ideen im Streben nach zahlenmäßiger Quantität nicht qualitativ verwässern. Es gibt keine künstlichen Abkürzungen. Unsere hohen politischen Standards aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Gelegenheiten zum Wachstum zu ergreifen, ist die Kunst des Aufbaus einer marxistischen Organisation.
Wir sollten uns über den kleinbürgerlichen Charakter sowohl des Opportunismus als auch des Sektierertums im Klaren sein. Die beste Verteidigung gegen den Druck klassenfremder Ideen besteht darin, unsere Genossen proaktiv in den Grundlagen der marxistischen Methode auszubilden.
Eine solide Grundlage in der marxistischen Theorie, Augenmaß und ein tiefes historisches Verständnis sind unerlässlich. Die IMT nimmt diese Arbeit ernster als jede andere Organisation der linken Bewegung. Das belegt der Umfang und die Qualität des politischen Materials, das wir produzieren. Wir wollen Genossen ausbilden, die selbstständig denken und die komplexen Phänomene unserer Zeit aus dem Blickwinkel der Arbeiterklasse und mit einer revolutionär-sozialistischen Perspektive analysieren können.
Ein niedriges theoretisches und politisches Niveau und sogar eine Geringschätzung von Theorie ist in der gesamten kapitalistischen Gesellschaft der USA vorherrschend, auch auf der linken Seite und in der Arbeiterbewegung. Das muss bewusst bekämpft werden. Das bloße Auswendiglernen einiger Formeln oder Slogans ist in der realen Welt völlig nutzlos. Die Realität präsentiert uns ständig neue Kombinationen und Konvergenzen, die nur dialektisch verstanden werden können.
Um starres und mechanisches Denken – das unglückliche intellektuelle Erbe der Vereinigten Staaten – zu vermeiden, müssen wir bewusst daran arbeiten, die marxistische Denk- und Analyseart zu verinnerlichen. Trotzki war in dieser Hinsicht unnachgiebig und hatte bei seiner Ankunft in Mexiko 1938 den folgenden Ratschlag für die Führer der American Socialist Workers Party (SWP):
„Wenn ihr in die Staaten zurückkehrt, müsst ihr Genossen sofort den Kampf gegen [Max] Eastmans Verzerrung und Ablehnung des dialektischen Materialismus aufnehmen. Es gibt nichts Wichtigeres als das. Der Pragmatismus, der Empirismus, ist der größte Fluch des amerikanischen Denkens. Man muss die jüngeren Genossen gegen eine Ansteckung impfen.“ (Eigene Übersetzung)
Genau aus diesem Grund hat die US-Sektion der IMT ein neues Buch über die revolutionäre Philosophie des Marxismus herausgegeben und verbrachte das Jahr damit, es gemeinsam durchzuarbeiten.
„Freiheit der Kritik“
Der Marxismus als philosophische und politische Weltanschauung dreht sich um Wandel, Widerspruch und Vergänglichkeit. Die Methode des Marxismus ist dialektisch und materialistisch. Sie bietet uns einen Rahmen für die Analyse von Prozessen, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern um effektiv in den Klassenkampf einzugreifen. Angewandt auf die komplexe Frage des Parteiaufbaus in der Epoche des Imperialismus und des kapitalistischen Zerfalls, wird diese Methode oft als Bolschewismus bezeichnet.
Das Markenzeichen des Bolschewismus ist die unerschütterliche, prinzipientreue Klassenunabhängigkeit in allen politischen Fragen, verbunden mit unendlicher taktischer Flexibilität. Seine Organisationsmethode basiert auf voller Diskussionsfreiheit, verbunden mit der Einheit bei der Ausführung der demokratisch beschlossenen Aufgaben. Natürlich müssen die Prioritäten, Perspektiven und sogar das Programm auf der Grundlage der sich verändernden Ereignisse, Bedürfnisse und Möglichkeiten flexibel aktualisiert oder sogar geändert werden. Aber die Grundzüge werden kollektiv beschlossen und alle von einem gewählten Gremium getroffenen Entscheidungen können von dem Gremium, das es gewählt hat, überprüft, geändert oder rückgängig gemacht werden. So kann die Organisation demokratische Entscheidungen treffen und sie wirksam und rechtzeitig umsetzen, ohne sich in endlosen Debatten über zweit- oder drittrangige Fragen zu verzetteln.
Es gibt jedoch einige, die behaupten, dass jeder Einzelne zu jeder Frage, wann immer er will, schriftlich Stellung nehmen sollte – und muss – und dass die Diskussion so lange fortgesetzt werden sollte, wie er selbst entscheidet. Das offenbart die durch und durch kleinbürgerliche, individualistische Sichtweise des Sektierers, wenn es um organisatorische Demokratie und kollektive Entscheidungsfindung geht.
Es ähnelt auffallend dem Konzept der „Freiheit der Kritik“, das Lenin bei vielen Gelegenheiten bekämpft hat. So eine „Freiheit“ führt nur zu Lähmung und Demoralisierung, da die Organisation als Geisel der Launen von Einzelpersonen gehalten wird, denen die kollektiven Interessen der Gruppe nicht am Herzen liegen. In Lenins Konzeption und Praxis muss sich die revolutionäre Strömung von solchen Tendenzen „reinigen“. Aber nicht durch stalinistische Verfolgung und Säuberungen, sondern durch ehrliche und politische Diskussion, Debatte und Klärung. In einem Artikel von 1905 mit dem Titel „Parteiorganisation und Parteiliteratur“ entwickelte er diese Idee:
„Die Partei ist ein freiwilliger Verband, der unweigerlich zunächst ideologisch und dann auch materiell zerfallen würde, wenn er sich nicht derjenigen Mitglieder entledigte, die parteiwidrige Auffassungen predigen. Zur Festsetzung der Grenze aber zwischen dem, was parteimäßig und was parteiwidrig ist, dient das Parteiprogramm, dienen die taktischen Resolutionen und das Statut der Partei, dient schließlich die ganze Erfahrung der internationalen Sozialdemokratie, der internationalen freiwilligen Verbände des Proletariats, das in seine Parteien ständig einzelne Elemente oder Strömungen einschließt, die nicht ganz konsequent, nicht ganz rein marxistisch, nicht ganz richtig sind, das aber auch ständig periodische ‚Reinigungen‘ seiner Partei vornimmt. So wird es, meine Herren Anhänger der bürgerlichen ‚Freiheit der Kritik‘, innerhalb der Partei auch bei uns sein.“
Die marxistische Methode
Die Wahrheit ist konkret, und unsere Analysen und Schlussfolgerungen müssen sich aus den Fakten ergeben. Wenn sie nicht zu den Fakten passen, dann müssen unsere Vorstellungen angepasst werden – denn wir können die Fakten nicht ändern. Letztlich muss die Theorie, die aus der praktischen Erfahrung verallgemeinert wird, wieder mit der Realität verbunden werden, wenn sie nützlich sein soll.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Theorie einfach kopiert und auf die Realität übertragen werden kann. Sektierer mit ihrem Schwarz-Weiß- und in Schablonendenken verstehen nur eine Seite dieser Gleichung.
Obwohl sie sich selbst für die „orthodoxesten“ Marxisten und engagierte Anhänger Lenins halten, ist die Methode von sektiererischen Gruppierungen das genaue Gegenteil des Bolschewismus. Anstatt den Marxismus als eine Methode zu verstehen, die auf die lebendige Wirklichkeit anzuwenden ist, behandeln sie die Worte von Marx, Engels, Lenin und Trotzki so, als seien sie überlieferte Gebote, die jederzeit und unabhängig von den konkreten Umständen anwendbar sind.
Sektierer agieren in einer Welt von festen Kategorien, vorgefassten Schemata und Reinheitsprüfungen. Für sie ist der Klassenkampf ein steriles Laboratorium, weit entfernt von der realen und chaotischen Welt in der es widersprüchliche Interessen und Bewusstsein gibt. Letztendlich entsteht Sektierertum aus geistiger Faulheit und führt auch wieder zurück zu dieser. Wenn man nur die Formel nachschlagen und dadurch die Antwort erhalten kann, besteht keine Notwendigkeit, komplizierte Probleme allseitig anzugehen. So werden marxistischen Prinzipien entstellt und verwandeln sich dadurch in ihr Gegenteil.
Wie Trotzki in „Sectarianism, Centrism and the Fourth International“ kurz und bündig erklärte:
„Obwohl er in jedem Satz auf den Marxismus schwört, ist der Sektierer die direkte Negation des dialektischen Materialismus, der von der Erfahrung ausgeht und immer wieder zu ihr zurückkehrt. Ein Sektierer versteht nicht die dialektische Aktion und Reaktion zwischen einem fertigen Programm und einem lebendigen, d.h. unvollkommenen und unfertigen Massenkampf… Sektiererei ist der Dialektik (nicht in Worten, sondern in Taten) in dem Sinne feindlich gesinnt, dass sie der tatsächlichen Entwicklung der Arbeiterklasse den Rücken kehrt.“ (Eigene Übersetzung)
Und wie er in „Das ABC der materialistischen Dialektik“ umrissen hat:
„Jeder Arbeiter weiß, dass es unmöglich ist, zwei völlig gleiche Gegenstände herzustellen. Beim Einsetzen von Kugeln in ein Kugellager ist eine bestimmte Abweichung für die Kugeln erlaubt, die jedoch nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen sollte (das nennt man Toleranz). Wenn man die Normen der Toleranz befolgt, werden die Kugeln als gleich betrachtet (A=A). Wenn die Toleranz überschritten wird, geht die Quantität in Qualität über, mit anderen Worten, die Kugellager werden minderwertig oder völlig wertlos.
Unser wissenschaftliches Denken ist nur ein Teil unserer allgemeinen praktischen Tätigkeit, die Technik eingeschlossen. Für Vorstellungen gibt es auch eine ‚Toleranz‘, die nicht von der formalen Logik festgesetzt wird, die vom Axiom A=A ausgeht, sondern von der dialektischen Logik, die von dem Axiom ausgeht, dass sich alles immer verändert. ‚Gesunder Menschenverstand‘ wird dadurch gekennzeichnet, dass er planmäßig die dialektische ‚Toleranz‘ überschreitet.“
Mit anderen Worten: Wann immer wir eine bestimmte Position einnehmen oder einen bestimmten Slogan aufgreifen, ist er innerhalb gewisser Grenzen richtig. Außerhalb dieser Grenzen ist er möglicherweise nicht mehr richtig und kann sich sogar in sein Gegenteil verkehren. Von etwas Nützlichem, das dazu beiträgt, Klassenbewusstsein, Vertrauen und Einheit zu stärken, kann es zu einem Hindernis für diese Ziele werden.
Das gilt auch für die Ausarbeitung politischer Perspektiven. Perspektiven sind eine unverzichtbare Orientierungshilfe für unsere Arbeit. Aber sie dürfen nicht als eine in Stein gemeißelte Voraussage behandelt werden, die für alle Zeiten gültig ist. Wenn sich die Bedingungen über bestimmte Grenzen hinaus verändern, wird die „dialektische Toleranz“ überschritten und die Perspektiven müssen aktualisiert oder ganz neu erarbeitet werden. Wie Trotzki in der Textsammlung „In Defense of Marxism“, in dem Text „Bilanz der Finnischen Ereignisse“ bemerkte
„Jede historische Vorhersage ist bedingt, und um so konkreter sie ist, um so mehr Bedingungen hat sie. Eine Prognose ist kein Schuldschein, der an einem bestimmten Tag eingelöst werden kann. Eine Prognose skizziert nur bestimmte Entwicklungstendenzen. Aber zusammen mit diesen Entwicklungstendenzen wirkt eine verschiedenartige Anordnung von Kräften und Tendenzen, die in einem bestimmten Augenblick vorzuherrschen beginnt. Wer exakte Prophezeiungen konkreter Ereignisse sucht, sollte einen Astrologen befragen. Eine marxistische Prognose hilft nur bei der Orientierung.“
Und in „Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party“ erklärte er:
„Die Dialektik ist kein Zauberstab für alle Fragen. Sie ersetzt nicht die konkrete wissenschaftliche Analyse. Aber sie weist dieser Analyse den richtigen Weg und schützt sie vor fruchtlosem Umherirren in der Einöde des Subjektivismus und der Scholastik.“
Die Verwendung von Zitaten
Ein weiterer wichtiger Aspekt der marxistischen Methode ist die Verwendung von Zitaten. Auszüge aus klassischen Schriften und Reden können helfen, Parallelen und Unterschiede zu veranschaulichen, die sich aus ähnlichen Situationen in Vergangenheit und Gegenwart ziehen lassen. Marxisten zielen darauf ab, diejenigen, die nicht mit uns übereinstimmen, mit kohärenten, überzeugenden und gut durchdachten Argumenten zu überzeugen. Auf diese Weise verwendet, können Zitate der großen Marxisten der Vergangenheit äußerst nützlich sein.
Die Sekten scheinen jedoch zu glauben, dass das bloße Zitieren einer angesehenen Quelle ausreicht, um „zu gewinnen“ und dir Diskussion zu beenden. Sie benutzen Zitate, um Leute auf Linie zu drängen – was das sektiererische Verhalten dieser Gruppen nur noch verstärkt.
Außerdem bestand die marxistische Methode immer darin, politische Gegner vollständig und im Kontext zu zitieren und nicht darin, als Täuschungsmanöver aus dem Kontext gerissene Zitate zu präsentieren. Sich auf diese Weise einen „Vorteil“ zu verschaffen, hat nichts mit einer ehrlichen politischen Debatte gemein. Trotzki bezeichnete diese Methode als Verfälschung durch Amalgam.
Indem man aus dem Zusammenhang gerissene Zitate – und oft nur Fragmente von Zitaten – mit Behauptungen, Übertreibungen und glatten Erfindungen kombiniert, lässt sich ein Todschlagargument leicht zusammenschustern. Diese Methode wurde von den Stalinisten perfektioniert und wird auch von den bürgerlichen Feinden der Russischen Revolution angewandt – aber sie hat nichts mit echtem Bolschewismus zu tun.
Was bauen wir auf und in welchem Stadium befinden wir uns?
Die IMT widmet sich dem Aufbau einer revolutionären Massenpartei, die in der Lage ist, die Weltarbeiterklasse zur politischen und wirtschaftlichen Macht zu führen. Sobald unser Programm mit Millionen von Arbeitern verbunden ist und von ihnen bewusst umgesetzt wird, wird der gesamte Planet transformiert werden. Natürlich ist dies leichter gesagt als getan!
Die Kunst des Parteiaufbaus liegt gerade darin, das revolutionäre Programm des Marxismus in eine Massenkraft zu verwandeln, die die Gesellschaft tatsächlich verändern kann. Das ist kein linearer Prozess. Während die DNA für eine erfolgreiche zukünftige Massenorganisation in einer politisch und organisatorisch gesunden kleinen Gruppierung enthalten sein mag, wächst die revolutionäre Partei nicht automatisch von klein über mittelgroß über groß zu massiv.
Die IMT bezeichnet sich selbst als eine Strömung und nicht als Partei, eben weil wir in diesem Stadium genau das sind – eine internationale marxistische politische Strömung in der Arbeiter-, Jugend-, sozialistischen und anderen Bewegungen. Unser Ziel in jedem Land ist es, eine Partei – und letztlich eine Massenpartei – zu werden. Aber eine solche Partei kann nicht einfach ausgerufen werden. Wir haben die Bescheidenheit und den revolutionären Optimismus, um zu verstehen, dass wir nur der Embryo sind, aber dass wir unter bestimmten Bedingungen – und diese Bedingungen reifen schnell – rasch wachsen und zu einem entscheidenden Faktor im Klassenkampf werden können.
Wie Trotzki in Bezug auf die entstehende Vierte Internationale schrieb:
„Ja, sie zählt noch nicht sehr viele Reihen, denn sie ist noch jung. Es sind bis jetzt vor allem Kader. Aber diese Kader sind der einzige Bürge der Zukunft. Außerhalb dieser Kader gibt es auf diesem Planeten keine einzige revolutionäre Strömung, die diesen Namen wirklich verdient. Wenn unsere Internationale zahlenmäßig auch noch schwach ist, so ist sie doch stark durch die Doktrin, das Programm, die Tradition und die unvergleichliche Festigkeit ihrer Kader. Wer das heute noch nicht erkennt, der mag weiter abseitsstehen. Morgen wird das deutlicher werden.“
Sobald eine sozialistische/kommunistische/Arbeiterpartei mit Massenbasis existiert, muss sie organisatorisch unabhängig sein. Jedoch ist eine Handvoll Marxisten, die die grundlegenden Fundamente für eine zukünftige kommunistische Massenpartei legen, nicht dasselbe wie eine kommunistische Massenpartei. Wir sind noch in einer Phase, in der wir einzelne gewinnen und sie in marxistischer Theorie und bolschewistischen Organisationsmethoden ausbilden. Ab einem bestimmten Stadium werden wir kleine Gruppen und schließlich hunderte und tausende gewinnen. Aber wir haben nicht die Hybris, uns zur Partei des Proletariats zu erklären oder mit anderen Parteien, Organisationen und Bewegungen in Beziehung zu treten, als ob wir diese Anerkennung durch die Arbeiterklasse bereits verdient hätten. Die verschiedenen „trotzkistischen“ Sekten hingegen glauben sich bereits als die Partei des Proletariats und des weltweiten Trotzkismus. Diese völlige Abkoppelung von der Realität verzerrt ihre Herangehensweise an die Arbeiterklasse und andere Formationen auf der Linken.
Trotzki hat weitere wichtige Erkenntnisse über den Unterschied zwischen einer Strömung und einer Partei herausgearbeitet. Mitte der 1930er Jahre drängte er seine französischen Anhänger in der Kommunistischen Liga, sich der Französischen Sozialistischen Partei (SFIO) „zuzuwenden“, um mit der sich rasch radikalisierenden Schicht junger Menschen in Kontakt zu kommen, die dieser Partei beigetreten waren. Ziel war es, die zahlenmäßig schwachen Kräfte des Trotzkismus in eine größere Kraft zu verwandeln, indem man der SFIO beitrat und die besten Personen für ein revolutionäres Programm gewann.
Es war dieselbe Sozialistische Partei, die bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Weltarbeiterklasse verriet. Aber es war nicht mehr 1914, sondern in den 1930er Jahren. Aufgrund der Launen der Geschichte wandten sich die klassenbewussten Schichten an die SFIO. Als Trotzki selbst beschuldigt wurde, das „Prinzip“ zu verraten, dass die Partei der Arbeiterklasse unabhängig sein müsse, antwortete er in einer Art FAQ in einem Artikel von 1934 mit dem Titel „Die Liga vor der Wendung“:
„18. Aber die proletarische Partei soll doch unabhängig sein? Gewiss. Aber die Liga ist noch keine Partei. Sie Ist ein Embryo, und ein Embryo braucht für seine Entwicklung Decke und Nahrung.“
Mit anderen Worten: Wir brauchen Augenmaß. Wenn wir in der gegenwärtigen Aufbauphase auf einen bestimmten Arbeitsbereich orientieren, zum Beispiel auf die Bewegung um Bernie Sanders, kommt es nicht in Frage unser revolutionäres Programm zu verwässern oder die Partei der Arbeiterklasse den Parteien der Bourgeoisie unterzuordnen. Unser Ziel ist es derzeit, mit den fortschrittlichsten Schichten in Verbindung zu treten und sie für unser Programm und unsere Perspektiven zu gewinnen. Wo immer sie zu finden sind. Wie wir in Dutzenden von Artikeln erklärt haben und weiter unten noch einmal erklären werden, haben wir bei dieser Arbeit noch nie unseren Klassenstandpunkt fallengelassen. Hätten wir das getan – so wie das CWI es getan hat – hätten wir vorübergehend mehr Unterstützung gewinnen können. Aber diese Art von Opportunismus, würde den Tod der IMT als revolutionärem Embryo für die Zukunft bedeuten – wie es das CWI und andere herausfinden.
Während unser allgemeines Ziel also darin besteht, die Grundlage für die Entstehung einer „revolutionären Partei“ zu legen, sind wir uns bewusst, dass wir uns noch in einem frühen Stadium der Entwicklung befinden und dass noch viele weitere Phasen der Entwicklung bevorstehen. Nichtsdestotrotz stellen wir den Embryo einer zukünftigen Partei dar. Unser Programm, auch wenn es vielleicht noch keine Verbindung zu den Massen herstellt, ist unser qualitativer Leitfaden, um immer tiefere Wurzeln in der Arbeiterklasse zu schlagen und in der Zukunft ein ernsthaftes quantitatives Wachstum zu erreichen.
Die Bedeutung und der Nutzen des Programms
Trotzki erklärte:
„Die Bedeutung des Programms ist die Bedeutung der Partei. Die Partei ist die Avantgarde der Arbeiterklasse. Die Partei wird gebildet durch die Auswahl aus den bewusstesten, fortgeschrittensten, ergebensten Elementen, und die Partei kann eine wichtige historisch-politische Rolle spielen, die nicht in direktem Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke steht. […] Die [bolschewistische] Partei leitete die Sowjets im ganzen Land dank korrekter Politik und des Zusammenhalts. […] Worin besteht ihr Zusammenhalt? Dieser Zusammenhalt ist ein gemeinsames Verständnis für die Ereignisse, für die Aufgaben, und dieses gemeinsame Verständnis – das ist das Programm der Partei. […]
Die kleinbürgerlichen Anarchisten und Intellektuellen haben Angst anzuerkennen, dass man einer Partei gemeinsame Ideen, eine gemeinsame Haltung gibt. Im Gegenteil wünschen sie moralische Programme. Aber für uns ist dieses Programm das Resultat gemeinsamer Erfahrung. Es wird keinem aufgezwungen, denn wer auch immer sich der Partei anschließt, tut es freiwillig. […] Das Programm […] [ist] die Notwendigkeit, die wir gelernt haben zu verstehen, und da die Notwendigkeit für alle Mitglieder der Klasse die Gleiche ist, können wir ein gemeinsames Verständnis der Aufgaben erreichen, und das Verständnis dieser Notwendigkeit ist das Programm.“
Und die Form, die das Programm in der Epoche des niedergehenden Kapitalismus annimmt, ist die des Übergangsprogramms. Hier erklärte Trotzki seine Übergangsmethode:
„Die Hauptaufgabe der IV. Internationale besteht darin, das Proletariat von der alten Führung zu befreien, deren Konservatismus der katastrophalen Lage des niedergehenden Kapitalismus völlig widerspricht und das stärkste Hindernis für den geschichtlichen Fortschritt bildet. Die Hauptanklage, welche die IV. Internationale gegen die traditionellen Organisationen des Proletariats erhebt, besteht darin, dass sie sich nicht von dem politischen Halbkadaver der Bourgeoisie trennen wollen.
Unter diesen Bedingungen ist die systematisch an die alte Führung gerichtete Forderung: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, übernehmt selbst die Macht!‘ ein äußerst wichtiges Werkzeug, um den verräterischen Charakter der Parteien und Organisationen der II. und III. Internationale sowie der Internationale von Amsterdam zu entlarven. […]
Von allen Parteien und Organisationen, die sich auf die Arbeiter und auf die Bauern stützen und in ihrem Namen sprechen, verlangen wir, dass sie politisch mit der Bourgeoisie brechen und den Weg des Kampfes um die Arbeiter- und Bauernregierung einschlagen. Auf diesem Weg versprechen wir ihnen volle Unterstützung gegenüber der kapitalistischen Reaktion. Gleichzeitig entfalten wir eine unermüdliche Agitation um die Übergangsforderungen, die nach unserem Urteil das Programm der ‚Arbeiter- und Bauernregierung‘ ausmachen sollten.
Ist die Errichtung einer solchen Regierung durch die traditionellen Arbeiterorganisationen möglich? Die bisherige Erfahrung zeigt uns, wie gesagt, dass dies zumindest unwahrscheinlich ist. Man kann jedoch nicht von vornherein kategorisch die theoretische Möglichkeit ausschließen, dass unter dem Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionäre Offensive der Massen usw.) kleinbürgerliche Parteien – die Stalinisten eingeschlossen – auf dem Weg des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist. […]
Es ist unmöglich, die konkreten Stadien der revolutionären Mobilisierung der Massen vorauszusehen. Die Sektionen der IV. Internationale müssen sich in jedem neuen Stadium kritisch orientieren und diejenigen Losungen ausgeben, welche die Hinwendung der Arbeiter zu einer unabhängigen Politik fördern, den Klassencharakter dieser Politik vertiefen, die reformistischen und pazifistischen Illusionen zerstören, die Verbindung der Vorhut mit den Massen festigen und die revolutionäre Machtergreifung vorbereiten.“
Vieles hat sich geändert, seit Trotzki diese Zeilen verfasst hat – zum Beispiel das zahlenmäßige Gewicht der Kleinbauern – aber die grundlegende Methode bleibt dieselbe. Die Demokratische Partei ist eine bürgerliche Partei, keine Arbeiterpartei – nie haben wir das Gegenteil behauptet. Dennoch haben sich viele Arbeiter jahrzehntelang mangels einer Alternative Illusionen in die Demokraten gemacht. Das ist eine Tatsache, ob es uns gefällt oder nicht. Und in dieser Epoche der verspäteten Weltrevolution müssen wir reformistische Sozialisten wie den „unabhängigen“ Bernie Sanders und die Redaktion des „Jacobin“ Magazins auf die Liste derer setzen, die Trotzki versucht hätte, „als verräterisch zu entlarven“, indem er systematisch „die alte Führung“ mit der Forderung angesprochen hätte: „Brecht mit der Bourgeoisie, übernehmt die Macht!“
In Dutzenden von Dokumenten und Artikeln haben wir erläutert, dass Sanders an der Spitze einer linken Massenbewegung steht, die auf verwirrte Art und Weise den Weg des geringsten Widerstands über eine „traditionelle“ Partei sucht. Das wird durch die Tatsache erschwert, dass diese Partei, welche von vielen Arbeitern gewählt wird, eine kapitalistische Partei ist. Sie gewinnt die Wahlunterstützung, indem sie den Arbeitern und Unterdrückten vormacht ihre Interessen zu berücksichtigen. Sie hat dadurch gewisse Erfolge, weil es bisher noch keine Massenpartei der Arbeiterklasse gibt.
Allerdings können die Demokraten nicht gleichzeitig das Klasseninteresse der Bourgeoisie mit dem ihrer Wähler aus der Arbeiterklasse vereinbaren. Deshalb haben diese Prozesse das Potenzial, das Zweiparteiensystem zu zerreißen, wenn es der herrschenden Klasse aus den Händen gleitet. Ein ähnlich verworrener Prozess spielt sich auch im republikanischen Lager ab, das ebenfalls an Schichten der Arbeiterklasse appellieren muss, um Stimmen zu gewinnen.
Wie können Marxisten in einer so verworrenen Situation die zunehmende Politisierung ausnutzen? Ohne in eine tatsächliche Unterstützung für irgendeine kapitalistische Partei oder einen kapitalistischen Politiker überzugehen, müssen wir versuchen, uns mit der Stimmung der Massen zu verbinden, um ihnen zu helfen, vollständig revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen, angefangen bei den fortgeschrittenen Schichten.
Dazu ist es notwendig, positive Forderungen zu stellen, d.h. zu erklären, wofür wir stehen, und nicht nur anzuprangern, wogegen wir sind. Die meisten Menschen lernen am besten durch Erfahrungen, nicht durch Vorträge. Wenn unsere völlig vernünftigen Forderungen von den Gewerkschaftsführern und Reformisten ignoriert oder abgelehnt werden, werden die Arbeiter beginnen, Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, wessen Interessen die Reformisten wirklich vertreten. Deshalb müssen wir uns freundlich und geduldig mit der Basis der Democratic Socialists of America (DAS) und mit denen befassen, die ehrliche Illusionen in Leute wie Sanders haben, weil sie noch keine Alternative sehen.
Wie Trotzki im Übergangsprogramm erklärte:
„Man muss der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muss in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“
Während sie in jedem Atemzug auf Trotzkis Übergangsprogramm schwören, gibt es in der Methode der Sektierer nichts Übergangsartiges. Diese Gruppierungen brauchen keine Brücke vom heutigen Bewusstsein zur Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution. Sie halten es für ausreichend, die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution zu erklären. Sie haben weder die Fähigkeit noch das Interesse, mit Menschen in Verbindung zu treten, die nach links gehen. Alle ihre Theorien und Kritiken existieren im luftleeren Raum.
Nehmen wir beispielsweise die Forderung der US-Sektion der IMT nach einer „sozialistischen Massenpartei der Arbeiterklasse“. Sektierer lehnen diese Formulierung ab, weil sie davon ausgehen, dass eine solche Partei reformistischen Charakter haben und daher nicht „rein“ sein wird.
Dabei ist es fast unvermeidlich, dass eine solche Partei, wenn sie entsteht, reformistisch sein wird. Wann in der Geschichte ist eine Arbeitermassenpartei ausgerüstet mit einem sozialistischen Programm und bolschewistischen Methoden aus dem Nichts aufgetaucht? Selbst die Bolschewiki arbeiteten mehr als ein Jahrzehnt lang in derselben Partei wie die Menschewiki, bevor sie sich als unabhängige Partei herausbildeten. Wie Lenin in Bezug auf Revolutionen erklärte: „Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.“ Dasselbe Grundprinzip gilt für die breitere sozialistische Bewegung und eine Arbeitermassenpartei in ihren Kinderschuhen.
Engels hat dies bereits 1886 klar verstanden. Wie sein Brief an Florence Kelley-Wischnewetzky vom 28. Dezember 1886 zeigt:
„Es ist viel wichtiger, dass die Bewegung sich ausbreitet, sich harmonisch entwickelt, Wurzeln schlägt und so weit als möglich das ganze amerikanische Proletariat umfasst, als dass sie von Anfang an von theoretisch völlig korrekter Linie ausginge und vorwärtsschreite. Es gibt keinen besseren Weg zur Klarheit theoretischer Erkenntnis, als durch die eignen Fehler lernen, ‚durch Schaden klug werden‘. Und für eine ganze große Klasse gibt es keinen anderen Weg, besonders für eine so hervorragend praktische und der Theorie so abholde Nation wie die Amerikaner. Die Hauptsache ist, zu erreichen, dass die Arbeiterklasse als Klasse handelt; ist das erst erreicht, so wird sie bald die rechte Richtung finden und alle, die widerstreben, ob H.G[eorge] oder Powderly, werden mit ihren kleinen eignen Sekten kaltgestellt sein. Deshalb halte ich auch die Knights of Labor für einen sehr wichtigen Faktor in der Bewegung, den man nicht von außen geringschätzig behandeln, sondern von innen revolutionieren sollte, und ich bin der Meinung, dass viele von den dortigen Deutschen einen ernsten Fehler gemacht haben, als sie versuchten, angesichts einer mächtigen und ruhmreichen Bewegung, die nicht ihre Schöpfung war, aus ihrer importierten und nicht immer verstandenen Theorie eine Art ‚alleinseligmachendes Dogma‘ zu machen und sich von jeder Bewegung fernzuhalten, die dieses Dogma nicht angenommen hat. Unsere Theorie ist kein Dogma, sondern die Darlegung eines Entwicklungsprozesses, und dieser Prozess schließt aufeinanderfolgende Phasen ein. Erwarten, dass die Amerikaner mit dem vollen Bewusstsein der Theorie beginnen werden, die in älteren industriellen Ländern ausgearbeitet ist, heißt, Unmögliches erwarten. Was die Deutschen tun sollten, ist, gemäß ihrer eignen Theorie zu handeln – wenn sie es verstehen, wie wir 1845 und 1848 für jede wirkliche allgemeine Bewegung der Arbeiterklasse einzutreten, deren faktischen Ausgangspunkt als solchen zu akzeptieren und sie schrittweise dadurch auf die theoretische Höhe zu bringen, dass sie zeigen, wie jeder begangene Fehler, jede erlittene Schlappe eine notwendige Folge falscher theoretischer Ansichten im ursprünglichen Programm war: Sie haben, mit den Worten des ‚Komm[unistischen] Manifest‘: in der Gegenwart der Bewegung die Zukunft der Bewegung zu repräsentieren. Aber vor allem lässt der Bewegung Zeit, sich zu festigen, und verschlimmert nicht die unvermeidliche Konfusion zu Beginn dadurch, dass ihr die Leute Dinge zu schlucken zwingt, die sie zunächst nicht richtig verstehen können, die sie aber bald lernen werden. Ein oder zwei Millionen Arbeiterstimmen im nächsten November für eine bona fide (gutgläubige) Arbeiterpartei sind augenblicklich unendlich viel mehr wert als hunderttausend Stimmen für eine doktrinär einwandfreie Plattform.“ (Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 36, S. 589 f., Dietz Verlag, Berlin/DDR 1973)
Wenn es zu einem entscheidenden Bruch mit den Demokraten und Republikanern kommt und die Gewerkschaften ihre enormen Ressourcen und Millionen von Mitgliedern in den Aufbau einer klassenunabhängigen Partei stecken, wird dies eine wichtige Veränderung in der amerikanischen Politik bedeuten – auch wenn sie zunächst von Reformisten dominiert wird, die den Kapitalismus retten wollen. Es wird bedeuten, dass die Hauptpfeiler der bürgerlichen politischen Herrschaft aus dem Gleichgewicht geraten sind und dass die Massen in einem in der Geschichte der USA noch nie dagewesenen Ausmaß radikalisiert worden sind. Wir können nicht im Voraus genau vorhersagen, in welcher Form, in welchem Rhythmus oder in welcher Reihenfolge sich dieser Prozess entfalten wird. Aber wir können sicher sein, dass er den Marxisten enorme Möglichkeiten eröffnen wird.
In den 1930er Jahren versuchte Trotzki, die Führung der amerikanischen SWP mit seiner Methode auszustatten: Das große strategische und prinzipienfeste Bild im Auge zu behalten und gleichzeitig jede noch so kleine taktische Gelegenheit zum Aufbau der Organisation zu ergreifen. Ein führender Kopf der SWP, Max Shachtman, spaltete sich nach rechts ab, da er nicht in der Lage war, die Dialektik zu begreifen. Er zog es vor, sich auf den Pragmatismus zu verlassen. Der folgende Austausch von 1938 über die Frage einer Arbeiterpartei verdeutlicht den mechanischen Ansatz Shachtmans und der als „trotzkistischen“ bezeichneten Sekten:
„Shachtman: Nun, unter der drohenden Gefahr des Kriegsausbruchs kann die Labor Party zu einer Falle werden. Und ich verstehe immer noch nicht, wie sich die Labor Party von einer reformistischen, rein parlamentarischen Partei unterscheiden kann.
Trotzki: Du stellst die Frage zu abstrakt; natürlich kann sich eine reformistische Partei herausschälen, die uns am Ende sogar ausschließt. Aber wir müssen Teil der Bewegung sein. Wir müssen zu den Stalinisten, den Lovestone-Anhängern etc. sagen: ‚Wir sind für eine revolutionäre Partei. Ihr tut alles, um sie reformistisch zu machen.‘ Aber wir stellen immer unser Programm heraus. Und wir treten für unser Programm von Übergangsforderungen ein.“ (unsere Hervorhebung)
Wird es uns gelingen, die Gesamtheit der künftigen Arbeitermassenpartei für ein revolutionäres sozialistisches Programm zu gewinnen? Das ist unmöglich vorherzusagen. Selbst wenn nicht, hätten wir ein riesiges Feld, in dem wir arbeiten könnten, und würden nicht nur einzelne, sondern auch Gruppen überzeugen. Ob wir die Mehrheit gewinnen oder nicht, ist nicht die Frage. Wichtig ist, dass wir viele hundert oder tausend mehr Unterstützer hätten als heute. Das ist die Kunst des Parteiaufbaus. Aber für Gruppierungen wie die Internationalist Group ist dies ein Buch mit sieben Siegeln.
Sektierer betrachten die Welt durch das starre Schema von „positiv“ oder „negativ“. Sie fetischisieren isolierte Tatsachen und trennen sie von gesamtgesellschaftlichen Prozessen ab. Sie sagen voraus, dass eine künftige Arbeitermassenpartei von Reformisten dominiert werden wird – eine leicht zu treffende Voraussage – und legen damit fest, dass sie ein „Minus“-Zeichen vor diese Partei setzen sollten, noch bevor sie überhaupt entsteht. Schließlich ist „reformistisch = schlecht“!
Für Sektierer spielt es keine Rolle, dass Millionen von Arbeitern und Jugendlichen durch den Prozess des Aufbaus einer solchen Partei unweigerlich in die politische Aktivität gebracht würden – viele Tausende von ihnen wären bereit, sich einer Tendenz wie der IMT anzuschließen, die gegen die Reformisten für ein revolutionäres Programm kämpft. Tatsächlich ist all die Arbeit, die wir heute tun, eine Vorbereitung auf diese zukünftigen Kämpfe.
Wir sind eindeutig gegen eine reformistische Arbeiterpartei. Wie Trotzki sagte, wäre es für uns „absurd“, dafür einzutreten. Aber ob eine solche Partei die Arbeiterklasse in reformistischen Bahnen halten kann oder nicht, wird letztlich von der Intervention der Marxisten abhängen. Wie man derzeit in der britischen Labour-Partei sehen kann, wird es ein lebendiger Kampf um den Einfluss innerhalb der Partei sein – und nicht etwas, das im Voraus festgelegt ist.
Die Sektierer setzen unsere Forderung nach einer sozialistischen Massenpartei mit der Unterstützung des Reformismus gleich. Das ist das politische Niveau dieser Leute, die die Massen kampflos den Reformisten überlassen. Stattdessen begnügen sie sich damit, abstrakt „Recht zu haben“, während sie von der Seitenlinie aus uns selbstgerecht „falsche Sozialisten“ nennen. Durch solche Methoden wird das Verständnis von niemandem auch nur ein bisschen gefördert.
Der Kampf gegen sektiererischen linken Radikalismus
Opportunismus und Sektierertum sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Von beiden geht der stärkste Druck auf Marxisten aus, wenn sie in einer Bewegung arbeiten. Opportunismus ist die Suche nach Abkürzungen durch Klassenzusammenarbeit. Beim Sektierertum der Linksradikalen handelt es sich um die Furcht davor, sich mit der chaotischen Realität auseinandersetzen zu müssen, was zur Enthaltsamkeit von der realen Welt führt. Da der Reformismus auf dem Vormarsch ist, ist es unvermeidlich, dass einige Leute davor zurückschrecken und sich dem linken Radikalismus zuwenden, während sie sich selbst für große „Leninisten“ halten.
Der Druck des Opportunismus hat oft einen Massencharakter – z.B. müssen wir den Argumenten des „kleineren Übels“ der Massenparteien, Organisationen und Medien entgegentreten. Sektierertum ist ebenso schädlich, auch wenn der Druck aus dieser Richtung im Vergleich dazu typischerweise gering ist. Dem Druck fremder Klassen muss widerstanden werden, ganz gleich, von welcher Seite des politischen Spektrums sie kommen.
Lenin und Trotzki schrieben ebenso wie Marx und Engels ausführlich über das Sektierertum der Linksradikalen und über Opportunismus. Trotzki bemerkte einmal, dass ein Sektierer ein Opportunist ist, der Angst vor seinem eigenen Opportunismus hat. Es ist viel einfacher, ein „Hardliner“ und „unnachgiebig“ zu sein und es abzulehnen, etwas mit dem „Unreinen“ zu tun zu haben, als sich mit komplexen Phänomenen in der realen Welt auseinanderzusetzen. Nicht umsonst nannte Lenin linken Radikalismus eine „Kinderkrankheit“ – das Produkt von Unreife und anmaßender Angeberei.
In seinem Artikel „Sectarianism, Centrism and the Fourth International“ charakterisiert Trotzki das Sektierertum wie folgt:
„Der Sektierer betrachtet das Leben der Gesellschaft als eine große Schule, in der er selbst als Lehrer tätig ist. Seiner Meinung nach sollte die Arbeiterklasse ihre weniger wichtigen Angelegenheiten beiseitelassen und sich in geschlossenen Reihen um sein Podium versammeln. Dann wäre die Aufgabe gelöst.“ (Eigene Übersetzung)
Und wie er im Übergangsprogramm erklärte:
„Jedoch befinden sich sektiererische Tendenzen in unseren eigenen Reihen und üben auf die Arbeit bestimmter Sektionen einen verhängnisvollen Einfluss aus. Das ist eine Sache, die keinen Tag länger geduldet werden darf. Eine richtige Politik in Bezug auf die Gewerkschaften ist eine Grundvoraussetzung für die Zugehörigkeit zur IV. Internationale. Wer den Weg der Massenbewegung weder sucht noch findet, der ist kein Kämpfer, sondern eine Belastung für die Partei. Ein Programm wird nicht für eine Redaktionsstube gemacht, sondern für die revolutionäre Aktion von Millionen Menschen. Die Säuberung der Reihen der IV. Internationale vom Sektierertum und den unverbesserlichen Sektierern ist die wichtigste Voraussetzung für revolutionäre Erfolge.“
Es lohnt sich auch, Trotzkis erhellenden Artikel über die Debatten, die die Spanische Revolution umgaben, ausführlich zu zitieren: „Über die ‚Ultralinken‘ im Allgemeinen und die unheilbaren im Besonderen“:
„Das marxistische Denken ist konkret, d.h. es fasst alle entscheidenden oder wichtigen Faktoren einer gegebenen Frage nicht nur in ihrem gegenseitigen Verhältnis, sondern auch in ihrer Entwicklung. Es löst die Lage des Augenblicks nicht in der allgemeinen Perspektive auf, sondern ermöglicht durch diese allgemeine Perspektive, die jeweilige Lage in all ihrer Besonderheit zu analysieren. Bei dieser konkreten Analyse aber beginnt eben die Politik. Das opportunistische wie das sektiererische Denken haben das gemein, dass sie aus der Vielfältigkeit der Umstände und Kräfte einen oder zwei Faktoren herauslösen, die ihnen am wichtigsten erscheinen – und es zuweilen tatsächlich sind –, sie von der komplexen Wirklichkeit trennen und ihnen unbegrenzte und unbeschränkte Kraft zuschreiben.
In der langen Vorkriegsperiode bediente sich der Reformismus auf diese Art sehr wichtiger, aber zeitlich begrenzter Faktoren: der machtvollen Entwicklung des Kapitalismus, der Hebung des Lebensstandards des Proletariats, der Stabilität der Demokratie, usw. Heute ist es das Sektierertum, das sich dieser wichtigsten Faktoren und Tendenzen bedient: des kapitalistischen Niedergangs, des gesunkenen Lebensstandards der Massen, des Verfaulens der Demokratie usw. Aber ebenso wie der Reformismus der vorhergehenden Epoche verwandelt das Sektierertum geschichtliche Tendenzen in allmächtige und absolute Faktoren. Die ‚Ultralinken‘ [=Linksradikalen] bleiben in ihrer Analyse dort stehen, wo sie eigentlich erst anfängt. Sie stellen der Wirklichkeit ein fix und fertiges Schema gegenüber. Indes leben die Massen in der Wirklichkeit. Darum hat das sektiererische Schema nicht den geringsten Boden in der Mentalität der Arbeiter. Seinem eigentlichen Wesen gemäß ist das Sektierertum der Unfruchtbarkeit geweiht. […]
Nur auf Grund dieser praktischen, eng mit der Erfahrung der großen Masse verknüpften Aktivität kann der Gewerkschaftsführer die allgemeinen Tendenzen des faulenden Kapitalismus bloßlegen und die Arbeiter für die Revolution erziehen. […]
Der sozialistische Charakter der Revolution, der von den sozialen Grundfaktoren unserer Epoche bestimmt ist, bietet sich jedoch nicht schon vom ersten Anfang der revolutionären Entwicklung an fix und fertig und ein für allemal gesichert dar. Nein, seit April 1931 nahm die große spanische Tragödie den Charakter einer ‚republikanischen‘ und ‚demokratischen‘ Revolution an. Während der folgenden Jahre verstand es die Bourgeoisie, den Ereignissen ihren Stempel aufzudrücken, obgleich die Alternative Kommunismus oder Faschismus – letzten Endes – voll in Kraft blieb. Je mehr die Linkszentristen und die Sektierer diese Alternative in ein überhistorisches Gesetz verwandeln, umso weniger sind sie imstande, die Massen dem bürgerlichen Einfluss zu entreißen Schlimmer, sie verstärken diesen Einfluss nur. Die POUM hat für ihre Erfahrung teuer gezahlt, ohne übrigens leider daraus die notwendigen Lehren zu ziehen.
Wenn die Linkszentristen sich hinter Lenin verkriechen, um die Revolution in ihren ursprünglichen Rahmen zu fesseln, den der bürgerlichen Demokratie, so schöpfen die Ultralinken aus derselben Leninschen Alternative das Recht, die reale Entwicklung der Revolution zu ignorieren und zu ‚boykottieren‘.
‚Der Unterschied zwischen der Negrin- und der Francoregierung‘, habe ich einem amerikanischen Genossen geantwortet, ‚ist der zwischen der faulenden bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus‘. Mit dieser elementaren Feststellung beginnt unsere politische Orientierung. — Wie?, entrüsten sich die Ultralinken, — man will uns so vor die Wahl zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus stellen? Aber das ist ja reiner Opportunismus! Die spanische Revolution ist im Grunde ein Kampf zwischen Sozialismus und Faschismus. Die bürgerliche Demokratie ist ganz und gar ausweglos… Und so weiter.
Die Alternative: Sozialismus oder Faschismus bedeutet nur, und das ist ziemlich wichtig, dass die spanische Revolution siegreich sein kann nur durch die Diktatur des Proletariats. Aber das bedeutet keineswegs, dass der Sieg von vorneherein gesichert ist. Es heißt noch – und darin liegt ja eben die ganze politische Aufgabe, – diese zwitterhafte, verworrene, halbblinde und halb-taube Revolution in eine sozialistische zu verwandeln. Es gilt nicht nur zu sagen was ist, sondern auch von dem auszugehen was ist. Die Führung gebenden Parteien, selbst die die von Sozialismus reden, die POUM mit einbegriffen, tun alles was sie können, um die Verwandlung dieser bestohlenen und entstellten Halbrevolution in eine bewusste und vollendete Revolution zu verhindern. Der von ihrem Instinkt getriebenen Arbeiterklasse gelang es allerdings in den höchsten Augenblicken der Revolution, auf dem Wege zum Sozialismus bedeutende Strecken zurückzulegen. Aber während der Ebbe können die Führung gebenden Parteien diese Strecken wiedererobern. Es ist nicht schwer, gestützt auf irgendeine soziologische Verallgemeinerung, über diese widerspruchsvolle Realität hinweg zu springen. Aber damit kommt man nicht einen zollbreit weiter. Es gilt, die materiellen Schwierigkeiten in der Aktion zu überwinden, d.h. durch eine der Realität entsprechende Taktik. […]
Die Linkszentristen wie die unheilbaren ‚Ultralinken‘ zitieren oft das Beispiel der bolschewistischen Politik im Konflikt Kerenski-Kornilow, ohne etwas davon zu verstehen. Die POUM sagt: ‚Aber die Bolschewiki kämpften doch mit Kerenski zusammen‘. Die Ultralinken erwidern: ‚Aber die Bolschewiki verweigerten Kerenski selbst unter der Drohung Kornilows jegliches Vertrauen‘. Alle beide haben recht… zur Hälfte, d.h. alle beide haben vollkommen unrecht. Die Bolschewiki blieben zwischen Kerenskis und Kornilows Lager nicht neutral. Sie kämpften in ersterem gegen letzteres. Sie nahmen das offizielle Oberkommando hin, solange sie nicht stark genug waren, es zu stürzen. Gerade seit August, d.h. seit Kornilows Erhebung datiert der fabelhafte Aufstieg der Bolschewiki. Dieser Aufstieg war möglich nur dank den zwei Seiten der bolschewistischen Politik. Während sie in vorderster Linie am Kampf gegen Kornilow teilnahmen, übernahmen die Bolschewiki nicht die geringste Verantwortung für Kerenskis Politik: im Gegenteil, sie machten ihn für den reaktionären Angriff verantwortlich und bezichtigten ihn der Unfähigkeit, seiner Herr zu werden. So bereiteten sie die politischen Voraussetzungen der Oktoberrevolution vor, in der die Alternative Bolschewismus oder Konterrevolution (Kommunismus oder Faschismus) aus einer historischen Tendenz zu einer lebendigen und unmittelbaren Wirklichkeit wurde.
Diese Lehre müssen wir der Jugend beibringen. Wir müssen ihr die marxistische Methode einimpfen. Aber was die Leute betrifft, die schon einige Jahrzehnte über das Schulalter hinaus sind und die uns — und der Wirklichkeit — hartnäckig immer dieselben Formeln entgegenhalten, die sie übrigens von uns übernommen haben, so muss man sie öffentlich für unheilbar erklären. Es ist notwendig, sie meilenweit von den Stäben entfernt zu halten, wo die revolutionäre Politik erarbeitet wird.“
Sektierer lassen keine Gelegenheit aus, uns zu informieren, dass Marxisten „sagen sollten, was ist“. Dies ist das ABC. Aber es gibt noch ein paar andere Buchstaben im Alphabet. Wie Trotzki im obigen Zitat erklärte:
„Es gilt nicht nur zu sagen was ist, sondern auch von dem auszugehen was ist. […] Es ist nicht schwer, gestützt auf irgendeine soziologische Verallgemeinerung, über diese widerspruchsvolle Realität hinweg zu springen. Aber damit kommt man nicht einen zollbreit weiter. Es gilt, die materiellen Schwierigkeiten in der Aktion zu überwinden, d.h. durch eine der Realität entsprechende Taktik.“
Trotzkis proletarische Militärpolitik
Wo es ihnen vorteilhaft erscheint, zitieren Sektierer gerne Lenin, Trotzki und James Cannon, als ob ihre Schriften die Bibel wären. Aber wenn es unbequem ist, ignorieren sie glückselig oder lassen den historischen Kontext bei den Teilen außer Acht, mit denen sie nicht einverstanden sind. Die Frage der Proletarischen Militärpolitik (PMP), eine von Trotzki im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs entwickelte Politik, ist ein Paradebeispiel für eine Position, die sie ablehnen, weil sie Trotzki oder Lenins Methode nie verstanden haben. Stattdessen greifen sie auf Standardpositionen und Formulierungen aus der Vergangenheit zurück. Insbesondere beziehen sie sich mechanisch auf Lenins Politik des „revolutionären Defätismus“ aus dem Ersten Weltkrieg, ohne den veränderten Kontext zu berücksichtigen, ohne dem veränderten Bewusstsein der Massen Rechnung zu tragen.
Wie man den Zweiten Weltkrieg und die Masseneinberufung angehen sollte, war eine Schlüsselfrage, mit der sich Marxisten in den späten 1930er Jahren auseinandersetzen mussten. Die PMP wurde für eine bestimmte Situation und Zeit entwickelt, basierend auf einem dialektischen Verständnis davon, wie die Arbeiterklasse den Krieg gegen Hitler sah, während sie auch die Isolation und Schwäche der Revolutionäre gegenüber dem Rooseveltismus und Stalinismus berücksichtigte. Es versteht sich von selbst, dass wir heute nicht unbedingt unter allen Bedingungen genau dieselbe Politik verfolgen würden. Es ist die von Trotzki angewandte Methode, die uns interessiert – und die den „trotzkistischen“ Sekten völlig gleichgültig ist.
Als der Krieg in Europa bereits tobte, bereitete sich der US-Imperialismus eindeutig darauf vor, im Namen der Alliierten einzutreten, und die herrschende Klasse peitschte den national-chauvinistischen Patriotismus auf, um die Massen auf eine noch nie dagewesene Mobilisierung von Soldaten und Industrieproduktion in Verbindung mit Austerität vorzubereiten. Obwohl die Ziele des Krieges eindeutig imperialistisch waren, verstanden Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern instinktiv, dass der Faschismus eine tödliche Bedrohung für ihre Klasse darstellte. Millionen waren bereit und sogar begierig darauf, „für die Freiheit zu kämpfen“, trotz der Entbehrungen und Gefahren des Krieges, nicht nur aus einer zynischen, bürgerlich-imperialistischen Perspektive, sondern aus einer Perspektive der Arbeiterklasse.
Marxisten haben und können keine sentimentale oder pazifistische Einstellung zum Krieg haben, der die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Es versteht sich von selbst, dass wir imperialistische Kriege ablehnen. Aber es gibt auch einen Grund, warum wir die Losung haben: „Kein Krieg außer dem Klassenkrieg!“ Die von Trotzki aufgebaute Rote Armee benutzte Gewehre und Artillerie genauso wie eine bürgerliche Armee. Ihre Soldaten ertrugen Disziplin und erlitten Tod und Verstümmelung genauso wie die Soldaten einer bürgerlichen Armee. Aber ihre Klassenbasis war grundlegend anders. Das ist es, was sie fortschrittlich machte.
Sie repräsentierte die einzige historisch fortschrittliche Klasse, die Arbeiterklasse, welche die armen Bauern und unterdrückten Nationalitäten in einen revolutionären Krieg gegen die Kapitalisten, Großgrundbesitzer und den Imperialismus führte. Es gibt einen Grund, warum Trotzki später das bürgerlich-demokratische Grundrecht auf Asyl von jedem Land in Europa verweigert wurde, als er aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde. Er war der Architekt einer „neuen Musterarmee“ des Proletariats – ein unverzeihliches Verbrechen!
Die herrschende Klasse profitiert davon, eine unbewaffnete Arbeiterklasse ohne militärische Ausbildung zu haben. Das macht es der „besonderen Formation bewaffneter Menschen“ leichter, die Massen zu unterjochen. Die Vorstellung von bewaffneten Massen erschreckt die Bourgeoisie. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass sie lieber einen Pakt mit ihren imperialistischen Rivalen ausarbeitet, als die Arbeiterinnen und Arbeiter zu bewaffnen (siehe z. B. die Pariser Kommune). Es ist kein Zufall, dass die Entwaffnung der Arbeiterklasse und der armen Bauern die oberste Priorität der bürgerlichen Ordnungskräfte ist, wann immer sie die Kontrolle über Gebiete wiederherstellen, die von bewaffneten Partisanen befreit wurden, zum Beispiel im Nachkriegsitalien oder -frankreich.
Aber aufgrund des Ausmaßes der Bedrohung durch den Faschismus und den japanischen Imperialismus war die herrschende Klasse der USA gezwungen, Millionen von Arbeiterinnen, Arbeitern und Kleinbauern zu bewaffnen und auszubilden. Aber sie wollten es zu ihren Bedingungen und ihren Interessen tun.
Zum Kontext der Situation kam die Schwäche der revolutionären Führung hinzu. Das heißt, die Marxisten waren nicht in der Lage, Franklin D. Roosevelt durch eine revolutionäre Regierung der Arbeiterklasse zu ersetzen, bevor die USA in den Krieg eintraten. Die USA würden so oder so in den Krieg eintreten, trotz der Opposition der Marxisten. Angesichts dieser Realität stellte sich die Frage, wie man sich am besten mit den Arbeitern im Zusammenhang mit der Massenbegeisterung für den Kampf gegen den Faschismus verbinden konnte. Wie untergräbt man am besten die Kontrolle, die die Kapitalisten über die Soldaten hatten, auf die sie sich verließen, um ihre imperialistischen Ziele durchzusetzen? Wie kann man dies tun und sich gleichzeitig auf die fast unvermeidliche revolutionäre Welle nach dem Krieg vorbereiten, auf die Zeit, in der der innerimperialistische Krieg in einen Krieg zwischen den Klassen verwandelt werden könnte?
Trotzki erklärte dies in einem Brief vom 9. Juli 1940 an den SWP-Führer Albert Goldman:
„Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass der Krieg die Bedeutung unseres Übergangsprogramms nicht aufhebt oder mindert. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Übergangsprogramm ist eine Brücke zwischen der gegenwärtigen Situation und der proletarischen Revolution. Der Krieg ist eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Die Besonderheit des Krieges ist, dass er die Entwicklung beschleunigt. Das bedeutet, dass unsere revolutionären Übergangsparolen mit jedem neuen Monat des Krieges immer aktueller, wirksamer und wichtiger werden. Wir müssen sie nur konkretisieren und an die Bedingungen anpassen. […]
Wir sind absolut für eine verpflichtende militärische Ausbildung und in gleicher Weise für die Wehrpflicht. Wehrpflicht? Ja. Durch den bürgerlichen Staat? Nein. Wir können diese Arbeit, wie jede andere, nicht dem Staat der Ausbeuter anvertrauen. In unserer Propaganda und Agitation müssen wir diese beiden Fragen sehr stark voneinander unterscheiden. Das heißt, nicht gegen die Notwendigkeit zu kämpfen, dass die Arbeiter gute Soldaten sind und eine Armee aufbauen, die auf Disziplin, Wissenschaft, starken Körpern und so weiter basiert, einschließlich der Wehrpflicht, sondern gegen den kapitalistischen Staat, der die Armee zum Vorteil der Ausbeuterklasse missbraucht. In Ihrem Absatz 4 sagen Sie: ‚Sobald die Wehrpflicht gesetzlich verankert ist, hören wir auf, dagegen zu kämpfen, setzen aber unseren Kampf für die militärische Ausbildung unter Arbeiterkontrolle usw. fort.‘ Ich würde es vorziehen zu sagen: ‚Sobald die Wehrpflicht zum Gesetz erhoben ist, konzentrieren wir uns auf unseren Kampf für die militärische Ausbildung usw., ohne den Kampf gegen den kapitalistischen Staat aufzugeben.‘
Wir können uns der militärischen Zwangsausbildung durch den bürgerlichen Staat nicht widersetzen, genauso wenig wie wir uns der verpflichtenden Schulbildung durch den bürgerlichen Staat widersetzen können. Die militärische Ausbildung ist in unseren Augen ein Teil der Erziehung. Wir müssen gegen den bürgerlichen Staat vorgehen, gegen seine Missstände auf diesem Gebiet wie auf anderen.
Wir müssen natürlich gegen den Krieg kämpfen, nicht nur bis zum Kriegsausbruch, sondern während des Krieges selbst, wenn er beginnt. Wir müssen jedoch unserem Kampf gegen den Krieg einen völlig revolutionären Sinn geben, indem wir uns dem Pazifismus entgegenstellen und ihn erbarmungslos anprangern. Die sehr einfache und sehr große Idee unseres Kampfes gegen den Krieg ist: Wir sind gegen den Krieg, aber wir werden den Krieg bekommen, wenn wir nicht in der Lage sind, die Kapitalisten zu stürzen.“ (Eigene Übersetzung)
Im September 1940, nur einen Monat nach Trotzkis Ermordung und noch unter seinem politischen Einfluss, verabschiedete die SWP eine „Resolution zur proletarischen Militärpolitik“. Darin fasste sie die PMP zusammen:
„Unter den Bedingungen der Massenmilitarisierung kann sich der revolutionäre Arbeiter der militärischen Ausbeutung ebenso wenig entziehen wie der Ausbeutung in der Fabrik. Er sucht nicht nach einer persönlichen Lösung des Problems des Krieges, indem er sich dem Militärdienst entzieht. Das ist nichts anderes als eine Desertation der Klassenpflicht. Der proletarische Revolutionär geht mit den Volksmassen. Er wird Soldat, wenn sie Soldaten werden, und zieht in den Krieg, wenn sie in den Krieg ziehen. Der proletarische Revolutionär strebt danach, der fähigste unter den Arbeitersoldaten zu werden, und zeigt in der Aktion, dass er am meisten um das allgemeine Wohl und den Schutz seiner Kameraden besorgt ist. Nur auf diese Weise kann der proletarische Revolutionär, wie in der Fabrik, das Vertrauen seiner Genossen in den Waffen gewinnen und ein einflussreicher Führer unter ihnen werden.
Die totalen Kriege, die von den modernen Imperialisten geführt werden, und ebenso die Vorbereitungen für solche Kriege, erfordern eine militärische Zwangsausbildung nicht weniger als die Bereitstellung enormer Mittel und die Unterordnung der Industrie unter die Herstellung von Rüstungsgütern. Solange die Massen die Kriegsvorbereitungen akzeptieren, wie es in den Vereinigten Staaten zweifellos der Fall ist, kann eine bloße negative Agitation gegen den Militärhaushalt und die Wehrpflicht für sich allein keine ernsthaften Ergebnisse bringen. Außerdem, nachdem der Kongress bereits Milliarden für die Rüstung bewilligt hatte und sicher war, ein Wehrpflichtgesetz ohne ernsthafte Opposition zu verabschieden, war eine solche negative Agitation gegen die Wehrpflicht etwas verspätet und degenerierte leicht zu einem kleinmütigen Pazifismus. Dies erwies sich als der Fall bei den Organisationen (Thomasite Socialists, Lovestoneites usw.), die mit dem absurden Konglomerat verbunden sind, das sich ‚Keep America Out of War Committee‘ nennt – ein schändliches und verräterisches Werkzeug der ‚demokratischen‘ Imperialisten. Die Heuchelei ihres Pazifismus wird durch die Tatsache angezeigt, dass sie sich gleichzeitig für den Sieg Großbritanniens aussprechen. Ebenso verräterisch ist die rein pazifistische Agitation der Stalinisten, die heute im Namen von Stalins Außenpolitik unter dem Hitler-Stalin-Pakt eingesetzt wird; und die morgen mit Sicherheit aufgegeben wird, wenn Stalin dies befiehlt, wenn er es für nötig hält, die Partner zu wechseln. Der Pazifismus von Browder und der Pazifismus von Thomas stammen aus unterschiedlichen Wurzeln, sind aber identisch in ihrem Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse. Unter der Herrschaft eines modernen Imperialismus, der bereits bis an die Zähne aufrüstet, ist ein abstrakter Kampf gegen den Militarismus bestenfalls Donquichotterie.
Die revolutionäre Strategie kann nur sein, diesen Militarismus als Realität zu nehmen und dem Programm der Imperialisten an jedem Punkt ein Klassenprogramm des Proletariats entgegenzusetzen. Wir kämpfen dagegen, die Arbeitersoldaten ohne richtige Ausbildung und Ausrüstung in die Schlacht zu schicken. Wir wenden uns gegen die militärische Führung der Arbeitersoldaten durch bürgerliche Offiziere, die keine Rücksicht auf ihre Behandlung, ihren Schutz und ihr Leben nehmen. Wir fordern Bundesmittel für die militärische Ausbildung von Arbeitern und Arbeiteroffizieren unter der Kontrolle der Gewerkschaften. Militärische Mittel? Ja – aber nur für die Einrichtung und Ausrüstung von Arbeiterausbildungslagern! Obligatorische militärische Ausbildung von Arbeitern? Ja – aber nur unter der Kontrolle der Gewerkschaften!
Das sind die notwendigen konkreten Losungen für die gegenwärtige Etappe der Vorbereitung des US-Imperialismus auf den Krieg in der nahen Zukunft. Sie bilden ein militärisches Übergangsprogramm, das das allgemeine politische Übergangsprogramm der Partei ergänzt.
Der US-Imperialismus bereitet sich materiell und ideologisch auf den Krieg vor, ohne darauf zu warten, das Datum des Beginns der tatsächlichen Feindseligkeiten oder den genauen Angriffspunkt im Voraus zu bestimmen. Die Arbeiteravantgarde muss sich ebenfalls auf den Krieg vorbereiten, ohne von spekulativen Antworten auf diese sekundären Fragen abhängig zu sein. Die Militarisierung des Landes zur Vorbereitung auf den Krieg findet vor unseren Augen statt. All unsere Arbeit und unsere Pläne für die Zukunft müssen sich auf diese Realität stützen.“ (Eigene Übersetzung)
Wenn die revolutionären Marxisten nicht in der Lage sind, eine Alternative für die Arbeiterklasse anzubieten, und die herrschende Klasse uns ihre Alternative aufzwingt, müssen wir trotzdem Wege finden, revolutionäre Ideen unter den Arbeitern zu wecken. In ähnlicher Weise sind wir keineswegs „für“ die bürgerliche Demokratie. Aber wenn wir sie noch nicht durch die Arbeiterdemokratie ersetzen können, würde uns die Enthaltung von bürgerlichen Wahlen „aus Prinzip“ – wie es viele Anarchisten tun – von denen isolieren, die durch solche Wahlen politisiert werden. Ohne irgendwelche Illusionen in diese Institutionen, Parteien oder Politiker zu schüren, nutzen wir diese Gelegenheiten, um revolutionäre Ideen zu wecken und Samen zu pflanzen, die Früchte tragen werden, sobald die Erfahrungen die Menschen von ihren Illusionen befreien.
Sekten wie die Spartacist League und die Internationalist Group lehnen die PMP rückwirkend ab. Mit ihrem typisch mechanischen Ansatz beschuldigen sie Trotzki und Cannon des Reformismus und Sozialpatriotismus und behaupten, die PMP sei „anti-leninistisch“. Sie zitieren sogar Max Shachtman wohlwollend gegen Cannon:
„Die PMP war ein fehlgeleiteter Versuch, den Wunsch der amerikanischen Arbeiterklasse, den Faschismus zu bekämpfen, in eine revolutionäre Perspektive zu verwandeln, ihren ‚eigenen‘ imperialistischen Staat zu stürzen. Der Kern der PMP war ein Aufruf zur gewerkschaftlichen Kontrolle der vom Staat eingeführten Wehrpflicht. […]
James P. Cannon, der Führer der SWP, verteidigte die Politik, vor allem gegen die Kritik von Max Shachtman, der sich kurz zuvor von der SWP gelöst und die Workers Party gegründet hatte. Im Wesentlichen enthielt die PMP eine reformistische Stoßrichtung; sie implizierte, dass es für die Arbeiterklasse möglich sei, die bürgerliche Armee zu kontrollieren. Die Logik der PMP führt zu reformistischen Konzepten der Arbeiterkontrolle über den Staat – die im Gegensatz zum marxistischen Verständnis stehen, dass das Proletariat die Organe der bürgerlichen Staatsmacht zerschlagen muss, um eine sozialistische Revolution durchzusetzen.“ (Eigene Übersetzung)
Revolutionäre Marxisten wissen ganz genau, dass der bürgerliche Staatsapparat nicht reformiert werden kann. Der Staat ist ein organisierter Ausdruck von Klassengewalt. Es gibt einen Grund, warum wir Lenins „Staat und Revolution“ als Pflichtlektüre für alle neuen Mitglieder empfehlen. Aber in der vereinfachten Weltsicht der Sektierer reicht es aus, darauf hinzuweisen, dass „das Proletariat die Organe der bürgerlichen Staatsmacht zerschlagen muss, um eine sozialistische Revolution durchzusetzen“ – als ob das eine große Offenbarung oder das Ende der Geschichte wäre. Sie lassen nur ein kleines Detail aus: Wie sollen wir diese richtige Idee in eine Realität für die Massen verwandeln? Sie beschönigen die unbequeme Tatsache, dass selbst die korrekteste Idee oder das korrekteste Programm wirkungslos ist, wenn sie sich nicht mit den Massen verbindet.
Max Shachtman war ein kleinbürgerlicher Intellektueller mit einer ablehnenden Haltung zum dialektischen Materialismus. Er vertrat den Pragmatismus anstelle der Dialektik als Anleitung zum Handeln und schwenkte schließlich weit nach rechts und unterstützte sogar die Schweinebucht-Invasion des US-Imperialismus auf Kuba. Obwohl die Sekten die offen reaktionären Positionen, die Shachtman später einnahm, offensichtlich ablehnen, ist es eine Tatsache, dass sie genau dieselbe antidialektische, „pragmatische“ Methode anwenden.
Nach Trotzkis Tod verlor Cannon in vielen wichtigen Fragen völlig die Orientierung und er hat reichlich Kritik für seine Rolle beim Untergang der Vierten Internationale verdient. Cannons tatsächliche Umsetzung des PMP spiegelte seinen Mangel an einem dialektischen Verständnis des Problems wider. Aber der von Trotzki formulierte Ansatz war voller Potenzial und zumindest versuchte Cannon ihn auszuführen. Und dennoch lehnen die Sekten ihn für eine der Positionen ab, in der er formal richtig lag.
Ein positives Beispiel, wie die PMP erfolgreich umgesetzt wurde, ist die inspirierende Arbeit von Ted Grant und seinen Genossen in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs. Diese ist detailliert beschrieben in „Ted Grant – The permanent revolutionary“ von Alan Woods, der „History of British Trotskyism“ von Ted selbst und in Artikeln wie „Reply of WIL to the RSL criticism of ‚Preparing for Power‘“ von 1943. In diesem wichtigen Text wiederholt Ted Trotzkis Ansatz und erklärt:
„Die Massen werden kritisch gegenüber Kapitalismus und Imperialismus, fühlen sich aber gelähmt durch die Angst vor den Folgen eines Nazi-Sieges. Die Militärpolitik und die Schriften des alten Mannes geben uns die Waffe in die Hand, die eine Antwort auf die Fragen gibt, welche die Massen beunruhigen.“ (Eigene Übersetzung)
In einer der Schriften, auf die sich Ted bezog, dem treffend betitelten Artikel „Lernt denken“, wetterte Trotzki scharf gegen die Sektierer:
„Gewisse ultralinke Berufs-Phrasendrescher versuchen um jeden Preis, die Thesen des Sekretariats der Vierten Internationale gemäß ihren eigenen verknöcherten Vorurteilen zu ‚korrigieren‘. Insbesondere greifen sie jenen Teil der Thesen an, in dem gesagt wird, dass die revolutionäre Partei in allen imperialistischen Ländern zwar in unversöhnlicher Opposition zu ihrer eigenen Regierung bleibt, dennoch aber ihre praktische Politik in jedem Land der inneren Lage und den internationalen Konstellationen anpassen sollte, indem sie klar zwischen einem Arbeiterstaat und einem bürgerlichen Staat sowie zwischen einem Kolonialland und einem imperialistischen Land unterscheidet.
‚Das Proletariat eines kapitalistischen Landes, das ein Bündnis mit der UdSSR geschlossen hat, [heißt es in den Thesen] muss seine unversöhnliche Feindschaft gegen die imperialistische Regierung seines eigenen Landes voll und ganz aufrechterhalten. In diesem Sinne wird sich seine Politik nicht von jener des Proletariats in einem Land, das gegen die UdSSR kämpft, unterscheiden. Was jedoch die praktischen Aktionen angeht, so können sich je nach der konkreten Kriegslage erhebliche Unterschiede ergeben.‘
Die Ultralinken halten diese Aussage, deren Richtigkeit durch den gesamten Verlauf der Entwicklung bestätigt worden ist, für den Ausgangspunkt von… Sozialpatriotismus […]. Da unsere Haltung gegenüber imperialistischen Regierungen in allen Ländern ‚dieselbe‘ sein sollte, verbieten diese Strategen jegliche Unterscheidungen außerhalb der Grenzen ihres eigenen imperialistischen Landes. In theoretischer Hinsicht entspringt ihr Fehler dem Versuch, die Politik in Kriegs- und Friedenszeiten auf ganz unterschiedliche Grundlagen zu stellen. […]
Die defätistische Politik, d.h. die Politik des unversöhnlichen Klassenkampfes in Kriegszeiten, kann folglich nicht in allen Ländern ‚dieselbe‘ sein, genau wie die Politik des Proletariats in Friedenszeiten nicht dieselbe sein kann. Nur die Komintern der Epigonen hat ein Regime errichtet, unter dem die Parteien aller Länder sich in Reih und Glied mit dem linken Fuß voran gleichzeitig in Marsch setzen. Im Kampf gegen diesen bürokratischen Kretinismus haben wir mehr als einmal versucht zu beweisen, dass die allgemeinen Prinzipien und Aufgaben in jedem Land unter Berücksichtigung der inneren und äußeren Umstände in die Tat umgesetzt werden müssen. Dieser Grundsatz bleibt auch in Kriegszeiten vollauf gültig.
Die Ultralinken, die nicht marxistisch – d.h. konkret – denken wollen, werden vom Krieg überrascht werden. Ihre Politik in Kriegszeiten wird die fatale Krönung ihrer Politik in Friedenszeiten sein. Bei den ersten Artilleriegeschossen wird sich ihr Ultralinkstum in politisches Nichts auflösen oder sie in das Lager des Sozialpatriotismus treiben, genau wie die spanischen Anarchisten, diese absoluten ‚Verneiner‘ des Staates, sich aus denselben Gründen als bürgerliche Minister wiederfanden, sobald der Krieg kam. Um in Kriegszeiten eine richtige Politik aufrechtzuerhalten, muss man in Friedenszeiten richtig zu denken lernen.“
Während der Krieg länger dauerte, als Trotzki ursprünglich erwartet hatte – zum großen Teil aufgrund der heroischen Opfer der sowjetischen Arbeiter – brachen sowohl während als auch nach dem Krieg revolutionäre Stimmungen in den Massen und Möglichkeiten für die sozialistische Revolution aus. Doch wieder bedeutete das Fehlen einer starken marxistischen Führung, dass das Potenzial nicht verwirklicht wurde. Die Stalinisten und Sozialdemokraten retteten erfolgreich den Kapitalismus.
Aber wer kann das Potenzial leugnen, das nicht nur in Europa, sondern auch in weiten Teilen Asiens, des Nahen Ostens und darüber hinaus existierte? Selbst das US-Militär erlebte eine Welle von Streiks und Protesten, die an eine Massenmeuterei grenzte und die herrschende Klasse verunsicherte. Nachdem der Faschismus und der japanische Imperialismus besiegt waren, wollten die Soldaten so schnell wie möglich wieder nach Hause. Das wird in dem Artikel „Lessons of the Post-WWII Soldiers‘ Movement: the Strikes of 1945-46“ ausführlich beschrieben.
Wir sind berechtigt zu fragen: Hätten die „orthodoxen trotzkistischen“ Sekten diese Welle des Widerstands durch die „Arbeiter und armen Bauern in Uniform“ unterstützt? Hätten sie an die „Formationen bewaffneter Menschen“ appelliert, wirtschaftliche und soziale Forderungen zu erheben, wie Vollbeschäftigung mit gewerkschaftlicher Vertretung, und dass die heimkehrenden Soldaten ihre Waffen behalten dürfen?
Da sie Trotzkis Ansatz, sich auf den Prozess der militärischen Massenmobilisierung der Arbeiterklasse einzulassen, rückwirkend denunziert haben – um nicht „Illusionen in den Reformismus zu schüren“ – können wir vermuten, dass sie ihre Mitglieder angewiesen hätten, sich der Einberufung zu diesem Zeitpunkt zu entziehen. Somit wären sie nicht in der Position gewesen, die Nachkriegs-Soldatenbewegung zu unterstützen, selbst wenn sie sie unterstützt hätten.
Das ist das Schicksal der Sektierer: so „radikal“ in der Theorie, so ohnmächtig in der Praxis. Wie Trotzki in einem Brief bemerkte: „Sekte ist ein Begriff, den ich nur für eine Organisation von der Art verwenden würde, die aufgrund ihrer falschen Methodik für immer dazu verdammt ist, am Rande des Lebens und des Kampfes der Arbeiterklasse zu verbleiben.“ (Writings of Leon Trotsky [1930], S. 383, eigene Übersetzung)
Zur Frage der Polizei
Einer der Hauptangriffe auf die IMT durch die linksradikalen Sektierer ist, dass wir angeblich „Polizisten lieben“. Sie zitieren vor allem zwei Artikel, einen von den britischen Genossen und einen von den Kanadiern, und verwenden völlig aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, um zu „beweisen“, dass die IMT die marxistische Grundposition zum Staat verraten hat. Wie ist es wirklich?
Wie oben erwähnt, ist Lenins Position in „Staat und Revolution“ – die auf Engels‘ Schriften basiert – unsere Grundlage, und wir legen großen Wert darauf, die Genossen in diesem klassischen Werk des Marxismus zu unterrichten. In Dutzenden von Artikeln, z. B. in dem sehr empfehlenswerten „Marxismus und der Staat“, machen wir Folgendes klar:
„Die Frage des Staates in der kapitalistischen Gesellschaft ist für Marxisten von zentraler Bedeutung. Wir sehen ihn nicht als einen unparteiischen Schiedsrichter, der über der Gesellschaft steht. Das grundlegende Wesen eines jeden Staates mit seinen „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“, seiner Polizei, seinen Gerichten und anderen Einrichtungen ist, dass er den Interessen einer Klasse in der Gesellschaft dient, im Fall des Kapitalismus der Kapitalistenklasse.“
Ohne den repressiven Staatsapparat könnten die Kapitalisten ihre Herrschaft nicht einen einzigen Tag lang aufrechterhalten. Sie benötigen eine besondere Kraft mit besonderen Befugnissen und Privilegien – einschließlich der Macht, tödliche Gewalt anzudrohen und anzuwenden – um die Mehrheit auf Linie zu halten. Als gesellschaftliche Kraft ist die Polizei eindeutig Teil der „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den persönlichen Reichtum derjenigen verteidigen, die den Löwenanteil davon besitzen.
Allein der Anblick der Polizei bringt das Blut von Millionen armer und arbeitender Menschen zum Kochen. Wie wird zu Recht als die Personifizierung der institutionellen Unterdrückung und Ungerechtigkeit des Systems angesehen wird. Rassismus, Korruption, Frauenfeindlichkeit, Brutalität und Autoritätsmissbrauch sind in den Polizeibehörden der USA und der ganzen Welt weit verbreitet. Revolutionäre Marxisten würden niemals die Idee äußern, dass Arbeiter sich auf den kapitalistischen Staatsapparat, einschließlich der Polizei, verlassen können, um sie oder ihre Interessen zu verteidigen.
Dies ist unser Ausgangspunkt. Aber wenn die Theorie auf die reale Welt prallt, können die Dinge viel komplizierter werden. Besonders in außergewöhnlichen Momenten ist es nicht so einfach, zu einer korrekten Position zu gelangen, indem man selbstgerecht ein paar Sätze von Lenin nachplappert.
Die Beziehungen zwischen und innerhalb der Klassen sowie die Beziehungen zwischen und innerhalb der verschiedenen Schichten der realen gesellschaftlichen Formationen sind dialektisch, komplex und dynamisch. Daraus folgt, dass Marxisten erkennen, dass der Staatsapparat kein Monolith, nicht homogen und nicht unempfindlich gegenüber dem Klassendruck und den Stimmungen der Gesellschaft ist. Um in einer bestimmten Situation zu einer richtigen Position zu gelangen, müssen wir unsere Analyse mit einem konkreten Blick auf die grundlegenden Klassenverhältnisse beginnen.
Die eigene Klasse wird vor allem durch das Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt. Für die beiden Hauptklassen ist das Verhältnis klar: Die Kapitalisten besitzen die Produktionsmittel und beuten die Arbeitskraft aus, um Profite zu erwirtschaften, Die Arbeiter, die nichts besitzen außer ihrer Fähigkeit zu arbeiten, müssen ihre Arbeitskraft für einen Lohn verkaufen. Sie arbeiten mit den Produktionsmitteln, die anderen gehören und von ihnen kontrolliert werden. Aber es gibt noch andere Klassen und Schichten in der modernen Gesellschaft.
Das Kleinbürgertum umfasst diejenigen, die sowohl selbst arbeiten als auch Arbeit ausbeuten, die etwas Eigentum besitzen oder kontrollieren, aber im Großen und Ganzen von den großen Banken und anderen Unternehmen, die die Wirtschaft dominieren, abhängig sind und/oder bei ihnen Schulden haben. Es gibt auch das Lumpenproletariat, „deklassierte“ Individuen, die vielleicht einmal Mitglieder der einen oder anderen Klasse waren, die aber jetzt keine klare Beziehung mehr zu den Produktionsmitteln haben, die als „Kriminelle“ oder von Almosen leben. Es gibt auch diejenigen, die in jeder Hinsicht, legal oder illegal, als Zwangsarbeiter oder Sklaven gehalten werden.
Wo also passt die Polizei hinein? Die Polizei besitzt weder die Produktionsmittel noch arbeitet sie mit ihnen. Sie wird in erster Linie aus Steuereinnahmen bezahlt, die hauptsächlich von der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum erhoben werden. Als solche sind sie keine Arbeiter im wissenschaftlichen Sinne. Aber sie sind auch keine Kapitalisten, Kleinbürger, Lumpenproletarier, Zwangsarbeiter oder Sklaven. Viele von ihnen identifizieren sich stark mit der herrschenden Klasse und glauben an deren Version von „Recht und Ordnung“. Viele haben eine kleinbürgerliche Einstellung und sehen sich selbst als „über“ dem Rest der Gesellschaft stehend, obwohl sie dies nicht aus der Perspektive der marxistischen Theorie des Staates verstehen. Andere haben eine völlig deklassierte, lumpenproletarische Anschauung. Sie missbrauchen oft ungestraft ihre Macht unverhohlen und beteiligen sich selbst an Korruption und illegalen Aktivitäten.
Was jedoch ihr tägliches Leben und ihre Lebensbedingungen betrifft, so stehen die meisten einzelnen Polizisten der Arbeiterklasse näher. Sie leben in Arbeitervierteln, haben Ehepartner aus der Arbeiterklasse und schicken ihre Kinder auf Schulen der Arbeiterklasse. Sie arbeiten für einen Lohn, von dem ihre Familien abhängen, um die Miete oder Hypothek, die Raten für das Auto, die Kreditkarten, die Studienschulden usw. zu bezahlen. Viele einzelne Polizisten identifizieren sich eindeutig und sogar mit Stolz als Teil der „Arbeiterklasse“ – manchmal weit mehr als viele Angestellte. In diesem Sinne können sie innerhalb bestimmter Grenzen als „Arbeiter“ betrachtet werden, obwohl wir nicht behaupten würden, dass sie Teil der Arbeiterklasse sind. Auch wenn dies vielleicht nicht in das starre gesellschaftliche Schema der Sektierer passt, ist es eine Tatsache.
Außerdem gibt es ein Spektrum bei den Strafverfolgungsbehörden: vom Kleinstadtpolizisten, Bezirksgerichtsvollzieher, NYPD-Schulsicherheitsbeamten und Gefängniswärter bis hin zu den State Troopers, FBI, Secret Service usw. Die meisten Arbeiter, aber sogar auch die am meisten unterdrückten und lumpenproletarische Elemente neigen dazu, diese Unterscheidungen zu erkennen. Der Polizist aus der Nachbarschaft, mit dem sie zur Schule gegangen sind, wird wahrscheinlich anders betrachtet – und behandelt – als die Bereitschaftspolizei, die aus einem anderen Zuständigkeitsbereich angefordert wird, um einen Streik oder eine Protestbewegung niederzuschlagen.
Aber auch damit ist die Frage noch nicht erschöpft. Die Klassenperspektive wird nicht automatisch durch die Herkunft oder den Status der Klasse bestimmt, obwohl dies eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel sind nicht alle Arbeiter bewusste und kämpferische Klassenkämpfer. Unter dem Druck und den Bedingungen, die in weiten Teilen der USA herrschen, nehmen viele Arbeiter eine kleinbürgerliche Haltung ein. Sie bewundern die Milliardäre als „Selfmade“-Männer und -Frauen, die sich ihren Reichtum „aufrichtig“ verdient haben. Sie denken, den Superreichen sollte man nacheifern und sie verehren – nicht, dass sie gehasst und gestürzt gehören – zumindest noch nicht.
Manche Kleinbürger sind gewissenhaft und bezahlen und behandeln ihre Arbeiter recht gut. Andere schauen auf ihre Angestellten herab, schikanieren sie und behandeln sie wie bloßes Kanonenfutter für die Ausbeutung. Einige, wie Marx und Trotzki, taten alles, um die Sache der Arbeiterklasse und der sozialistischen Revolution zu fördern. Und es gibt sogar seltene Fälle, in denen einzelne Bourgeois – wie Engels – sich dazu entschieden, völlig auf die Seite der Arbeiterklasse überzugehen.
Die meisten einzelnen Polizisten treten der Polizei bei, nicht weil sie überzeugte prokapitalistische Ideologen sind, die sich ihrer Rolle als Verteidiger der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse klar bewusst sind, sondern weil sie keine anderen Berufsaussichten haben. Oder sie haben ehrliche Illusionen, dass sie als Polizisten, „ihrer Gemeinde helfen“ oder sogar „den Rassismus bekämpfen“. Wie klassifiziert man einen ehemaligen Automobilarbeiter, der Polizist wird? Oder ein Polizist, der ein Automobilarbeiter wird? „Einmal ein Polizist, immer ein Polizist?“ „Einmal ein Fabrikarbeiter, immer ein Fabrikarbeiter?“
Dann gibt es noch die privaten Wachleute, die Bahnpolizei und die Vollzugsbeamten in privaten Gefängnissen, die nicht direkt für den Staat arbeiten. Es gibt auch Whistleblower innerhalb des staatlichen Sicherheitsapparates, vom FBI bis zur NSA, die von Zeit zu Zeit aus der Reihe tanzen und eine Gefängnisstrafe riskieren, um der Welt zu sagen, was sie über die verlogenen Aktivitäten ihrer Behörden wissen.
All das passt nicht in die „Schwarz-Weiß“-Schablone des Sektierers, aber so sind die Umstände in der realen Welt nun einmal. Das Leben und die Gesellschaft sind widersprüchlich und wir müssen uns mit den Gegebenheiten befassen, wie sie sind, nicht wie wir sie gerne hätten. Das Ziel einer Klassenanalyse ist nicht, jedes Individuum in der Gesellschaft zu kategorisieren und in eine Schublade zu stecken. Das wäre aufgrund der vielen unscharfen Bereiche, die es gibt und die sich ständig verändern, unmöglich. Vielmehr müssen wir die breiteren Klasseninteressen, Kräfte, Prozesse und Dynamiken betrachten.
Es ist für diejenigen, die in einer pseudo-leninistischen Fantasiewelt leben, unverständlich, aber von allen Institutionen haben die Amerikaner laut einer Gallup-Umfrage nur „sehr viel Vertrauen“ in das Militär (74 Prozent), das Kleingewerbe (67 Prozent) und die Polizei (54 Prozent). Zum Vergleich: Die Zustimmung für den Kongress liegt bei elf Prozent, für den Präsidenten und den Obersten Gerichtshof bei 37 Prozent. Während Marxisten ihre grundlegenden Positionen nicht auf Gallup-Umfragen und das episodische Fehlen einer Klassenperspektive bei den Massen stützen, müssen diese Arten von Stimmungen erklärt und berücksichtigt werden.
Während der Ereignisse in Ferguson und des Aufstiegs von #BlackLivesMatter hat der Fokus auf den Polizeiterror in den Vierteln armer Schwarzer und Latinos, das Vertrauen in die Polizei allgemein gesenkt. Aber wenn solche zügellose Brutalität in den Medien gerade nicht hervorgehoben wird, tendiert die allgemeine Ansicht in eine positive Richtung. Wie ist das zu erklären?
In dieser Welt des Mangels und der Entfremdung gibt es einige schreckliche Menschen. Die meisten normalen Arbeiter denken, dass es eine gute Sache ist, wenn es eine Kraft gibt, die sie vor solchen Menschen „schützt“ und dass diese von den „guten“ Menschen in der Gesellschaft ferngehalten werden. Für die meisten Menschen ist die Idee, Gefängnisse abzuschaffen gleichbedeutend damit, „alle Mörder und Kinderschänder freizulassen“ – und das macht ihnen Angst. Im Zeitalter der nicht enden wollenden Schulschießereien sind viele Menschen für bewaffnete Polizisten in Schulen. Das alles wird durch die Massenmedien und die „Teile und Herrsche“-Strategie der herrschenden Klasse noch verschärft. Die Realität ist, dass es selbst in den frühen Tagen eines Arbeiterstaates eine Art von Polizei und sogar Gefängnisse geben würde. Die Probleme der alten Gesellschaft würden sich nicht über Nacht verflüchtigen. Allerdings würden diese Einrichtungen demokratisch von den Arbeitern im Interesse der Mehrheit geführt werden.
Interessanterweise ergab die oben zitierte Gallup-Umfrage auch, dass nur 22 Prozent der Befragten „sehr viel“ Vertrauen in das Strafrechtssystem haben, was zeigt, dass es ein gesundes Misstrauen gegenüber dem institutionell rassistischen und unterdrückerischen Justizsystem als Ganzes gibt. Daneben werden diejenigen, die dieselben Gesetze und Institutionen tatsächlich durchsetzen und verteidigen, anders gesehen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die meisten Polizisten und Soldaten mit jemandem verwandt oder persönlich bekannt sind. Von vielen, die sie kennen und um ihr Wohlergehen besorgt sind, werden sie sogar als „Helden“ angesehen.
Oder betrachten wir das Beispiel der „cops for labor“ (Polizisten für die Arbeiterbewegung) während des „Wisconsin-Aufstandes“ im Jahr 2011. Wie unsere Genossen damals berichteten:
„Es ist wirklich inspirierend, die Transformation der Arbeiter und Studenten in Wisconsin zu sehen. Es scheint, dass jeder eine Meinung zu dem Thema hat und dass niemand apathisch ist. Ich sah, wie Tausende von Studenten in das Kapitol strömten und schrien: ‚What’s disgusting? Union busting!‘ (Was ist ekelhaft? Angriffe auf Gewerkschaften!) Es ist klar, dass eine ganz neue Generation in die Arbeitersolidarität eingeführt wird. Gestern gab es sogar einen Marsch der Polizei, bei dem über tausend Polizisten und ihre Familien mit Schildern mit der Aufschrift ‚Cops for Labor‘ kamen und ihre Fäuste in Solidarität erhoben. Was für ein Spektakel!“ (Eigene Übersetzung)
In einem anderen Artikel, „Wisconsin Shows How to Fight Austerity!“, haben wir festgestellt:
„Walker steht von allen Seiten unter Druck. Die milliardenschweren Koch-Brüder, Bankiers der Tea Party, haben ihm sicherlich klar gemacht, was für die Reichen auf dem Spiel steht: Mehr Kürzungen sind nötig und die Macht der organisierten Arbeiterschaft muss beschnitten werden. Aber er steht auch unter dem Druck von Tausenden von Arbeitern und Studenten, die Tag und Nacht im und um den Rundbau des Kapitols demonstrieren. Die Solidaritätsdemonstrationen sind landesweit größer geworden. ER steht unter dem Druck von Gouverneure anderer Bundesstaaten und der Bundesregierung, nachzugeben, bevor der Kampf sich intensiviert und ‚außer Kontrolle‘ gerät. Ein Sieg der Arbeiter in Wisconsin würde die Arbeiter überall ermutigen. Es gibt auch Spannungen innerhalb der Regierung von Wisconsin, besonders zwischen dem Gouverneur und der Polizei.
Die Polizeigewerkschaft hat bereits zur Unterstützung anderer Angestellter des öffentlichen Sektors demonstriert und marschierte unter ‚Cops for Labor‘-Bannern, und die [Polizei-]Gewerkschaft erklärte, sie werde sich weigern, Demonstrierende aus dem Kapitolgebäude zu entfernen. Nach den interessanten Enthüllungen eines ‚Scherzanrufs‘ an Walker durch einen Blogger, der sich als David Koch ausgab, bei dem Walker zugab, dass er mit dem Gedanken gespielt hatte, Provokateure unter die Demonstranten zu platzieren, herrscht ein eisiges Verhältnis mit den Polizeichefs. Dane County Sheriff David Mahoney sagte auf einer Pressekonferenz am Montag: ‚Als wir gebeten wurden, an den Türen Wache zu stehen, wurde diese Aufgabe an die Wisconsin State Patrol übergeben, weil unsere Deputies nicht als Palastwache stehen wollten. Ich habe mich geweigert, Deputy Sheriffs in die Verlegenheit zu bringen, Palastwächter zu sein.‘
Mit anderen Worten, genau die Institution, die für ‚Ordnung‘ sorgen soll, ist dem Gouverneur feindlich gesinnt. Wenn sich die Arbeiter des öffentlichen und privaten Sektors und die Studenten zu einem eintägigen Generalstreik zusammenschließen, würden dieser Druck und die Spannungen zunehmen und Walker könnte gezwungen sein, nachzugeben. Walker behauptet, dass seine Handlungen Wisconsin ‚offen für die Wirtschaft‘ machen werden – aber ein Generalstreik und eine breite Unterstützung unter Kleinunternehmern für die Gewerkschaftsdemonstranten ist nicht ganz der von ihm beabsichtigte Effekt!“ (Eigene Übersetzung)
Am Ende musste die State Patrol, die geografisch und operativ weiter von der lokalen Bevölkerung in Madison entfernt ist, und die eindeutig mehr reaktionäre Individuen in ihren Reihen hat, hinzugezogen werden, um den Rundbau des Kapitols zu räumen. Das Problem in Wisconsin war nicht die Existenz von Polizeigewerkschaften, sondern dass die Gewerkschaftsführung den Demokraten hinterherlief, die alles in ihrer Macht stehende taten, um die Bewegung einzudämmen und zu begrenzen. Am Ende ließen die Demokraten lieber zu, dass Walker im Amt bleibt, als selbst von der steigenden Flut einer klassenbewussten Massenbewegung an die Macht gedrängt zu werden.
Wir schrieben während der Occupy-Wall-Street-Bewegung:
„Diejenigen, die sagen, dass die Polizei nicht auf unserer Seite steht, haben in gewisser Weise recht. Die Polizei ist gegen die Interessen der Arbeiterklasse aufgestellt. Doch in der Realität sind die Dinge nicht so klar und einfach. Die Polizei besteht immer noch aus Individuen, die gegen Bezahlung arbeiten. Als Teil des Staatsapparates werden sie jedoch nicht beschäftigt, um Reichtum zu schaffen, sondern um ihn zu sichern. Ihre Position als Teil einer Zwangsgewalt unterscheidet sie auch von anderen Staatsangestellten, die im Bildungswesen, in der Verwaltung, in der Instandhaltung, im Sozialwesen usw. beschäftigt sind.
Wie erklären wir dann die ‚Cops for Labor‘ während der Massendemonstrationen in Madison, Wisconsin, Anfang dieses Jahres? Feuerwehrleute und Polizisten waren von Walkers Gesetzesvorschlag ausgenommen, und trotzdem schlossen sich Hunderte von ihnen der Besetzung des Capitols an. Sind dies die Aktionen eines vereinten reaktionären Blocks, der im Gleichschritt marschiert, um die widerspenstigen Arbeiter zu zerschlagen? Die Polizei ist gewerkschaftlich organisiert und offensichtlich sah sich eine Schicht der Polizei in Madison in der organisierten Arbeiterschaft vertreten. Obwohl ihre Aufgabe darin besteht, den kapitalistischen Staat zu schützen, hat eine bedeutende Schicht auch ein Interesse daran, sich selbst zu verteidigen, indem sie die Arbeiter verteidigt.
Die Struktur der Polizei ist sehr hierarchisch, etwas, das den meisten Arbeitern vertraut ist. Daraus folgt, dass es Schichten in der Polizei gibt, die privilegierter sind als andere und daher mehr in die Aufrechterhaltung des Status quo investieren. Dies ist besonders wichtig im Kontext der Krise des Kapitalismus. Wie Arbeiter auf der ganzen Welt in den letzten Jahren gesehen haben, wird die Kapitalistenklasse in ihrem verzweifelten Kampf sich selbst zu retten nichts scheuen. Wie ein Ertrinkender wird sie mit rücksichtsloser Hingabe alles niederreißen, was sie kann, um sich für einen weiteren Moment über Wasser zu halten. Die Bourgeoisie wird nicht einmal ihren eigenen Staatsapparat schonen. Überall auf der Welt werden die Staatsapparate durch Sparmaßnahmen heruntergewirtschaftet. In den USA werden die Mittel der Polizeikräfte gekürzt, in einigen Fällen drastisch. Natürlich betreffen die meisten Kürzungen die unteren Ränge der Polizei und das trägt zu Zwiespalt bei.
Und darin liegt der Schlüssel zur richtigen Orientierung. Alles, was die Aufmerksamkeit auf die Gegensätze und Widersprüche zwischen den verschiedenen Schichten der Polizei lenkt und gleichzeitig auf den Gegensatz zwischen den einfachen Polizisten und den Reichen, zu deren Verteidigung sie angestellt sind, hinweist und damit die Truppe spaltet, ist gut für die politisierenden Arbeiter. Alles, was uns von den breiteren Massen unserer Klasse entfremdet, während es gleichzeitig die Reihen der Polizei stählt, indem es potenzielle Sympathisanten in die Arme der Reaktion treibt, sichert unsere Niederlage.
Letztendlich kann nur der bewusste, revolutionäre Umsturz des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse den Zwangsapparat des kapitalistischen Staates erfolgreich demontieren. Als Teil dieses Kampfes würde eine unabhängige Massenpartei der Arbeiterklasse, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm, die Forderung nach Verstaatlichung des Finanzsektors vorbringen. Dieser würden viele Polizisten zustimmen. Die schweren Bataillone der Arbeiterschaft würden es den Bossen viel schwerer machen, die Kontrolle zu behalten, indem sie einen unerbittlichen politischen und wirtschaftlichen Kampf gegen das eine Prozent führen und gleichzeitig die Polizeigewerkschaften auffordern, die Rechte der Amerikaner aus der Arbeiterklasse zu verteidigen.“ (Eigene Übersetzung)
Oder nehmen wir das Beispiel der tunesischen Revolution. Damals erklärten wir:
„‚Mehrere Dutzend Polizisten, einige in Zivil, andere in Uniform und mit roten Armbinden, kamen heute [21. Januar 2011] zur regionalen Arbeitergewerkschaft in Ben Guerdane [an der Grenze zu Libyen], um die Gründung einer Gewerkschaft zu fordern, um ihre Moralität und ihre materiellen Rechte zu verteidigen‘, berichtete Hssine Betaïeb, ein Gewerkschafter der UGTT gegenüber AFP. ‚Sie haben uns gesagt, dass sie, egal wie das Regime sein mag, in Zukunft nie wieder Gewalt gegen die Bevölkerung anwenden werden.‘
Dies ist sehr bedeutsam. Es ist klar, dass es in einer Polizei, die aus 120.000 Menschen besteht, viele verschiedene Schichten gibt, vom brutalen Folterer über die abgestumpfte Bereitschaftspolizei bis hin zur Verkehrspolizei usw. Einige von ihnen wollen sich vom Ben-Ali-Regime distanzieren, um sich selbst zu schützen. Andere haben sich von der herrschenden revolutionären Stimmung anstecken lassen und bringen ihre aufgestauten Beschwerden zum Vorschein. Richtig ist, dass der Staatsapparat in Tunesien die Formationen bewaffneter Menschen zur Verteidigung des Privateigentums, von denen Engels sprach, durch die revolutionären Ereignisse extrem geschwächt, wenn auch noch nicht völlig zerstört worden ist.
Dies wurde anschaulich demonstriert, als die Demonstration am Samstag vor dem Büro des Premierministers ankam, das durch Stacheldraht und Bereitschaftspolizei geschützt war. Konfrontiert mit Tausenden von wütenden Demonstranten, die tunesische Banner und eine Che-Guevara-Fahne trugen, konnte die Polizei die Demonstranten nur anflehen: ‚Macht, was ihr wollt, aber stürmt bitte nicht das Büro des Premierministers.‘ Hätte es eine klare Führung gegeben, hätten sie das Büro des Premierministers übernehmen können. Die Regierung hängt wirklich in der Luft, angesichts der sich entwickelnden revolutionären Bewegung.“ (Eigene Übersetzung)
All dies soll verdeutlichen, dass die Frage der Polizei ein komplexes und vielseitiges Thema ist. Wie können wir also das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen?
Wie immer ist unser Ausgangspunkt die Frage, ob etwas die Einheit, das Vertrauen und das Bewusstsein der Arbeiterklasse stärkt oder nicht. Wenn dies der Fall ist, unterstützen wir es; wenn nicht, lehnen wir es ab. Als logische Konsequenz daraus können wir hinzufügen, dass wir das unterstützen, was den Zusammenhalt und das Vertrauen der herrschenden Klasse und derer, auf die sie sich stützt, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, untergräbt.
Die Dialektik zeigt, dass Widersprüche überall existieren – auch im bürgerlichen Staatsapparat. Zwischen den Individuen, die die Funktionen des Staates ausüben, und ihren Herren kann und wird es zu Streitigkeiten kommen. In vielen Fällen sind die Auseinandersetzungen von reaktionärem Charakter. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren gingen einige Insassen des berüchtigten Rikers-Island-Gefängnisses in New York City vor Gericht, um über Misshandlungen durch Gefängniswärter auszusagen. Die Gewerkschaft der Strafvollzugsbeamten organisierte eine Arbeitsniederlegung, um diese Leute an der Aussage zu hindern. Das war ein reaktionärer Streik und wir waren komplett dagegen.
Aber es gibt andere, außergewöhnliche Anlässe, wenn die „Formationen bewaffneter Menschen“ die herrschende Klasse konfrontieren und Forderungen an sie stellen, wie es während der Soldatenstreiks nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Oder wenn die Polizei oder Gefängniswärter für höhere Löhne und/oder bessere Bedingungen für sich und die von ihnen bewachten Gefangenen streiken. Im Zusammenhang mit den laufenden Angriffen auf die Beschäftigten des öffentlichen Sektors können diese Kämpfe Auswirkungen auf die breitere Arbeiterklasse haben, wie es beim wilden Streik der Gefängniswärter in Alberta der Fall war.
Sollten die Arbeiter in solchen Konflikten die Streikenden ermutigen und versuchen, die Arbeitskämpfe auf den öffentlichen und privaten Sektor im Allgemeinen auszuweiten und auf breitere Forderungen zu drängen? Oder sollten sie die Position der Sekten übernehmen und den Rest des bürgerlichen Staates in seinem Bestreben unterstützen, die Streikenden zu zerschlagen? Fördert es nicht die Interessen der Arbeiterklasse, wenn die Kräfte, auf die die Kapitalisten zur Einschüchterung und Unterdrückung angewiesen sind, gespalten, demoralisiert, nicht mehr fraglos loyal oder sogar in offener Auflehnung sind?
Wir haben keinen pauschalen Ansatz. Während wir die Vernetzung der Polizeigewerkschaften mit dem Rest der Arbeiterbewegung unterstützen, insofern dies in bestimmten Fällen den bürgerlichen Staat schwächen kann, sind wir nicht dafür, den Polizeigewerkschaften irgendwelche reaktionären Zugeständnisse zu machen, um sie unter dem Dach der organisierten Arbeiterbewegung zu halten.
Ebenso unterstützen wir nicht automatisch jeden Streik oder jede Massenbewegung. Es hängt von den konkreten Umständen ab. Als Beispiel sei der Truckerstreik von 1972 gegen die Allende-Regierung in Chile genannt, der von der CIA orchestriert wurde, um den Druck zu erhöhen, die Regierung zu stürzen.
In diesem Gesamtzusammenhang müssen wir die Position der IMT zu Polizei- und Gefängniswärtergewerkschaften und Streiks verstehen. Zunächst einmal wird jeder, der unser Material objektiv liest, sehen, dass die überwiegende Mehrheit der Verweise auf die Polizei sich darauf konzentriert, ihre Funktion als Teil des kapitalistischen Staatsapparats zur Verteidigung der kapitalistischen Interessen zu erklären. Nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn Konflikte innerhalb des Staatsapparats ausbrechen, gehen wir konkret auf die Frage von Polizei- oder Gefängniswärtergewerkschaften und Streiks ein.
Wenn die Polizei ihre Arbeit niederlegt und sich weigert, als Repressionswerkzeug benutzt zu werden, sollen wir dann ignorieren, dass sich die Situation geändert hat? Wenn sich Risse im Staatsapparat abzeichnen, sollen wir dann versuchen, diese Risse zu vergrößern und die Fesseln der Disziplin weiter zu lockern, oder sollen wir das nicht tun? Wenn die Polizei auftaucht und den Befehl erhält, eine Streikpostenkette zu durchbrechen, werden sie dann eher die Disziplin brechen, wenn sie von den streikenden Arbeitern als Gewerkschaftskollegen angesprochen werden – oder wenn ihnen sofort gesagt wird: „F*ckt euch, ihr Schweine! Bullen raus aus der Arbeiterbewegung!“?
Wenn im Kontext eines verschärften Klassenkampfes oder einer revolutionären Situation auch nur ein kleiner Teil des Repressionsapparats durch gewerkschaftsübergreifende Verbrüderung neutralisiert werden kann, wäre das unserer Meinung nach eine gute Sache – und die meisten Arbeiter würden zustimmen. Es ist viel besser, einige, wenn nicht alle Polizisten davon abzuhalten, den Arbeitern die Köpfe einzuschlagen, indem man den Druck einer Massenbewegung nutzt, um die Kräfte der Repression zu spalten. Die „trotzkistischen“ Sektierer lieben es, über „leninistische Prinzipien“ zu schwadronieren – vor allem, weil die meisten von ihnen kleinbürgerliche Professoren und Studenten sind, die nie in den Genuss einer polizeilichen Anzeige kommen werden.
Schauen wir uns einige konkrete Beispiele aus den Schriften der IMT an, beginnend mit „Der ‚Geist von Petrograd?‘ Die Polizeistreiks von 1918 und 1919 in Großbritannien“. Anstatt ein paar Zeilen aus dem Zusammenhang zu reißen, wie es die Linksradikalen tun, werden wir etwas ausführlich zitieren:
„Marxisten haben immer behauptet, dass die Intensität des Klassenkampfes irgendwann auch die ‚besonderen Formationen bewaffneter Menschen‘ des bürgerlichen Staates betrifft. Ein solches Beispiel war der Polizeistreik in Großbritannien am Ende des Ersten Weltkriegs […] Unter der Führung der National Union of Police and Prison Officers verschworen sich kämpferische klassenbewusste Polizisten, um ihre Rolle als unterwürfiges Organ des Staates zu überwinden.
Die Revolution hatte begonnen: So schien es zumindest, als die Wächter des Staates im Spätsommer 1918 revoltierten. ‚Geist von Petrograd! Die Londoner Polizei streikt!‘, rief eine jubelnde Sylvia Pankhurst und drückte damit die Aufregung anderer britischer Revolutionäre aus. ‚Danach kann alles passieren. Nicht die Armee, sondern die Polizei ist die Macht, die politische und industrielle Aufstände niederschlägt und das etablierte Gefüge der britischen Gesellschaft aufrechterhält.‘
Es hätte keinen schlechteren Zeitpunkt für diesen unvorstellbaren Streik geben können. Das Gespenst der Revolution suchte Europa heim wie nie zuvor, die britische Arbeiterklasse ließ ihre Muskeln spielen, und in Europa tobte immer noch der Große Krieg. Einem hohen Scotland-Yard-Beamten zufolge ‚meuterte die Polizei im Angesicht des Feindes‘. Kein Wunder also, dass der Anblick von 12.000 wütenden Metropolitan Constables, die auf Whitehall marschierten, in herrschenden Kreisen Panik auslöste. Einem damaligen Regierungsvertreter zufolge hatten die vermeintlichen Verteidiger des Status quo die Downing Street mit ‚einer sehr bedrohlichen Haltung umzingelt… [und] gaben den Insassen das Gefühl, dass sie wirklich einer Revolution gegenüberstanden‘. Würde das Herz des britischen Empires in einer solchen Krise seiner Verteidigungsanlagen beraubt werden?“ (Eigene Übersetzung)
Es war in Bezug auf diese Ereignisse, dass wir (etwas scherzhaft) von „bolschewistischen Bobbies“ sprachen, als 25.000 wütende Polizisten 2008 durch London marschierten, im breiteren Kontext der zunehmenden Austerität und des verschärften Klassenkampfes. Es hat jedoch den Anschein, dass die Linksradikalen, weil sie „prinzipiell“ gegen Polizeigewerkschaften sind, die Bemühungen des britischen Imperialismus zur Niederschlagung der Streikenden von 1918/19 gutheißen. Das Ergebnis des Streiks war, diejenigen in der Polizei zu schikanieren, die mehr mit den Arbeitern sympathisierten, und sicherzustellen, dass diejenigen, die in der Polizei blieben, dem kapitalistischen Staat gegenüber überloyal waren. War das ein positives Ergebnis für die Arbeiterklasse?
Das Problem 1918-19 waren nicht die Polizeigewerkschaften, sondern das genaue Gegenteil – die Tatsache, dass die Polizei eine Gewerkschaft gründen wollte. Die Bourgeoisie war dagegen, feuerte alle Streikenden und entzog ihnen ihre Pensionen – eine harte Botschaft für jeden, der es wagt, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder der herrschenden Klasse zu trotzen. Bis heute verbietet das britische Gesetz der Polizei, normalen Gewerkschaften beizutreten. Warum ist das so? Warum wurde der Streik der Gefängniswärter in Alberta ebenfalls von der herrschenden Klasse bekämpft und angegriffen? Nur ein verstockter Sektierer könnte nicht verstehen, dass die herrschende Klasse diese Bewegungen als Bedrohung ansieht, weil sie sich ausbreiten könnte. Und doch finden sich die „reinen“ Sektierer auf derselben Seite der Barrikaden wie der bürgerliche Staat und wiederholen gebetsmühlenartig ihr Mantra: „Keine Polizeigewerkschaften!“
Ein weiteres klassisches Beispiel für die zusammengewürfelte Verwendung von Zitaten durch die Sektierer ist das folgende Fragment aus Trotzkis Schrift, das als das „letzte Wort“ zur Frage der Polizei präsentiert wird: „Die Arbeiter, die Polizisten im Dienst des kapitalistischen Staates geworden sind, sind bürgerliche Polizisten und nicht Arbeiter.“
Dieses Zitat stammt aus einer wichtigen Broschüre, „Was Nun?“, die Trotzki 1932 schrieb und die sich mit dem Kampf gegen den Faschismus in Deutschland beschäftigt. Wenn man es in seinem Kontext liest, ist der Zweck des Artikels glasklar. Trotzki kritisierte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), weil sie die Arbeiter nicht gegen die Faschisten mobilisierte. Stattdessen drängte die SPD die Arbeiterklasse dazu, sich zum eigenen Schutz, auf den bürgerlichen Staat und die Polizei zu verlassen.
Das Ziel der SPD-Führung war es, den Klassenzusammenhalt und den Kampfgeist der Arbeiter zu untergraben und Illusionen in die bürgerliche „Rechtsstaatlichkeit“ zu schüren – um den Kapitalismus zu verteidigen. Sie wussten, dass vor dem Hintergrund der tiefen Krise des deutschen Kapitalismus und der revolutionären Erfahrung von nur wenigen Jahren zuvor, wenn die Arbeiter zu den Waffen griffen, um die Faschisten zu bekämpfen, die Dinge außer Kontrolle geraten könnten und den Kapitalismus gefährden würden.
Wir stimmen zu 100 Prozent mit Trotzki überein: Die Arbeiterklasse kann sich nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen, um die Interessen der Arbeiter gegen die Faschisten zu verteidigen. Wir können uns nur auf unsere eigene Klasse und unsere Organisationen verlassen. Wie wir alle wissen, führte der Verrat der SPD-Führung – zusammen mit dem der Stalinisten – letztendlich zum Aufstieg Hitlers.
Was Trotzki hier jedoch nicht diskutierte, war eine Situation, in der die Polizei in Aufruhr ist oder sich anderweitig gegen ihre Herren stellt. Trotzki diskutierte nicht über den britischen Polizeistreik von 1918/19. Da er zu dieser Zeit mit dem Aufbau der Roten Armee und dem Kampf im russischen revolutionären Bürgerkrieg beschäftigt war, kommentierte er nie diese besonderen Ereignisse in Großbritannien. Aber wir können sicher sein, dass er, wenn er es getan hätte, seine Position nicht einfach von einem Kontext in einen anderen kopiert hätte oder andersherum. Zum Beispiel schrieb derselbe Trotzki in einem ganz anderen Kontext im selben Land – dem revolutionären Gärungsprozess in Deutschland in den frühen 1920er-Jahren – das Folgende:
„Ich habe soeben die Grundkräfte des Gegners genannt, die 100.000 Mann starke Reichswehr, deren Größe durch den Versailler Vertrag festgelegt wurde. Das ist eine Freiwilligenarmee, die fast ausschließlich aus Bauern besteht, die von ihren faschistischen Offizieren einer entsprechenden Bearbeitung unterzogen wurden. Bis zu einem gewissen Grad ist auch die 135.000 Mann starke Polizei eine Waffe in der Hand von General Seeckt. Sie besteht hauptsächlich aus städtischen Arbeitern, außer in Bayern und Württemberg. Während die Reichswehr aus jungen Landleuten besteht, die zu 95 % unverheiratet sind, sind die Polizisten Arbeiter, in der überwiegenden Mehrzahl mit Familie, die durch Arbeitslosigkeit und andere Umstände zum Polizeidienst getrieben wurden. In Preußen-Brandenburg besteht diese Polizei zu einem beträchtlichen Teil aus sozialdemokratischen Arbeitern und bildet die Garde des preußischen Innenministers Severing. Das Gesetz verbietet den Polizisten die Zugehörigkeit zu politischen Parteien, erlaubt ihnen aber die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften, so dass diese Polizisten in den meisten Fällen Mitglieder der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften sind.
Kompetente Personen schätzen, dass ein Drittel dieser Polizisten mit Sicherheit gegen uns kämpfen wird (hauptsächlich in den ländlichen Gebieten), ein Drittel wird neutral bleiben, und etwa ein Drittel wird an unserer Seite kämpfen oder uns helfen. Die arithmetische Berechnung zeigt also, dass die Polizei gelähmt sein wird, und sie wird als unabhängige Kraft eliminiert werden. Hier hängt natürlich alles von der Politik, der Taktik und Strategie ab, die wir entwickeln. Aber das Wichtigste ist, dass wir die Reichswehr und die Polizei nicht als etwas Einheitliches und Monolithisches betrachten. Eine solche Auffassung ist völlig falsch.
Der junge deutsche Kommunist weist natürlich in der Regel mehr oder weniger die gleiche Psychologie auf wie unser junger Rotarmist. Wenn er zum ersten Mal in eine unangenehme Situation im Kampf gerät, scheint es ihm, dass sein Feind etwas Schreckliches, Furchtloses und so Mächtiges ist, dass dieser Feind, wenn er sein Gewicht zur Geltung bringt, ihn vernichten und zermalmen wird, denn er, der arme Teufel Petrow aus der Provinz Pensa, ist ein schwaches Geschöpf, und er fühlt sich krank im Herzen… Deshalb ist ein wichtiges Element in der Ausbildung von Semjonow oder Petrow, ihn so zu erziehen, dass er weiß, dass auch der Feind ein Mensch ist, dass auch er ein Herz hat, das sich krank fühlen kann… Und wir, die wir sehr gut gelernt haben, wie wir uns mit den Massen verbinden können, haben alles, was wir brauchen, um diese Aufgabe richtig zu erfüllen.“ (Eigene Übersetzung, unsere Hervorhebung)
Wie wir aus dem obigen Zitat sehen können, behandelte Trotzki die Polizei nicht als einen monolithischen reaktionären Block. Er forderte nicht, die Polizei aus den freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften herauszuwerfen und er glaubte nicht, dass kein Polizist jemals für die Revolution gewonnen werden könnte. Im Gegenteil, unter den konkreten Bedingungen, auf die er sich bezog, glaubte er, dass „ein Drittel neutral bleiben wird, und etwa ein Drittel wird an unserer Seite kämpfen oder uns helfen.“ Man kann sicherlich anderer Meinung sein als Trotzki, aber man kann nicht leugnen, dass Trotzkis Methode ihn damals zu dieser Schlussfolgerung führte.
Anstatt vereinfachende Slogans zu übernehmen und sie unter allen Bedingungen gedankenlos zu wiederholen, folgt die IMT Trotzkis Methode und analysiert jede Situation konkret aus der Perspektive dessen, was die Interessen der breiteren Arbeiterklasse am besten fördert.
Wir betonen die Tatsache, dass Polizeibrutalität eine Funktion einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft ist und nicht nur eine Angelegenheit einzelner Soziopathen – obwohl die Polizei mehr als genug solche Leute hat. Vor allem betonen wir, dass die Frage der Polizei niemals innerhalb der Grenzen des Kapitalismus gelöst werden kann. Um Polizeibrutalität zu beenden, müssen wir das System des Privateigentums an den Produktionsmitteln beenden. Denn dieses macht Polizisten und den Staat überhaupt erst notwendig. Das ist es, wofür wir kämpfen und wofür wir immer gekämpft haben, egal wie die Sektierer versuchen, Verwirrung zu stiften, indem sie unsere dialektisch differenzierte Position verdrehen.
Die Massen, Wahlkampfpolitik und die Verwendung von Slogans
Die bürgerliche Wahlkampfpolitik ist ein Minenfeld, besonders in einem Land ohne eine Massenpartei oder -tradition der Arbeiterklasse. Es ist jedoch ein Minenfeld, durch das Marxisten navigieren müssen, gerade weil Millionen von Arbeitern weiterhin Illusionen in bürgerliche Wahlen haben. Die linksradikalen Sekten beschuldigen die IMT, „Illusionen“ in Leute wie Bernie Sanders und AOC zu schüren. Ist das wirklich der Fall?
Zunächst einmal sollten wir verstehen, dass für die Sektierer die Erwähnung irgendeines bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Politikers oder einer Partei in etwas anderem als einem mürrischen, feindseligen, denunziatorischen Ton das Äquivalent zum „Säen von Illusionen“ ist. Marx‘ Ansatz – hart in der Sache, freundlich im Ton – ist ihnen völlig fremd. Aber jeder, der unser Material ehrlich und im Kontext liest, wird Folgendes sehen:
1. Wir haben immer eine prinzipienfeste, klassenunabhängige Position vertreten – nicht ein einziges Mal haben wir dazu aufgerufen, für die Demokratische Partei (oder die Republikanische Partei) zu stimmen oder ihr beizutreten.
2. Als sich das Bewusstsein der Massen und insbesondere der fortgeschrittenen Schichten, angetrieben durch die Krise des Kapitalismus, verändert hat, haben wir unsere Losungen angepasst – aber nicht unsere prinzipielle Position. Kann jemand ernsthaft leugnen, dass in den letzten Jahren ein kolossaler Wandel stattgefunden hat, zum Beispiel in der Frage des „Sozialismus“? Sollen wir weiterhin genau die gleichen Slogans und Formulierungen der Ära vor Sanders/Trump verwenden?
3. Weit davon entfernt, „Illusionen zu schüren“, haben wir die Massen durch ihre Erfahrungen begleitet, ihr politisches Verständnis und ihren Horizont erweitert, indem wir positive Forderungen erhoben haben. Gleichzeitig haben wir die grundlegenden Klasseninteressen und -beziehungen sowie die Gefahren erklärt, die mit irgendwelchen Illusionen bei den Demokraten verbunden sind. Zum Beispiel in der Frage des sogenannten „geringeren Übels“.
Socialist Alternative (CWI), die Democratic Socialists of America (DSA) und andere folgten Sanders, als dieser 2016 für die Demokraten antrat und rückten in dieser Frage vor 2020 noch weiter nach rechts, Wir hingegen haben eine prinzipielle Position beibehalten. Wir haben nicht nach künstlichen Abkürzungen gesucht, stattdessen haben wir unser Banner für die Zukunft ausgerollt, auch wenn uns das von schnellen und einfachen kurzfristigen Gewinnen abschneidet. Wir verstehen, dass die Qualität der Ideen und Kader in dieser Phase von größter Bedeutung ist und dass die Quantität in der Zukunft daraus resultieren wird.
Wir haben uns ausgewogen an diejenigen gewendet, die bereits mit Sanders und den Demokraten gebrochen haben, und an diejenigen, die immer noch hoffen, dass das ein gangbarer Weg zum „Sozialismus“ ist. Wir haben konsequent die Notwendigkeit einer unabhängigen sozialistischen Massenpartei der Arbeiterklasse auf der Grundlage der Gewerkschaften erklärt sowie die Notwendigkeit, eine Kaderorganisation aufzubauen, die für ein revolutionäres Programm in dieser zukünftigen Partei kämpfen kann.
All das zu erreichen, ist nicht so einfach, wie die Notwendigkeit zu verkünden: „Schmiedet die Vierte Internationale neu!“ Es erfordert geduldige Erklärungen, theoretische Argumente und historische Beispiele sowie zeitgemäße Losungen und Forderungen, die an das aktuelle Stadium des Klassenbewusstseins anknüpfen und es anheben.
Trotzkis Überlegungen zur Frage der bürgerlich-demokratischen Forderungen und der bürgerlichen Demokratie im Allgemeinen werfen ein wichtiges Licht darauf, wie Marxisten sich effektiv mit breiteren politischen Fragen auseinandersetzen können und sollten. Der Schlüssel liegt darin, die Massen in ihrer alltäglichen Erfahrung zu begleiten, ohne die Grenze zur Klassenkollaboration zu überschreiten. Neben der besprochenen Proletarischen Militärpolitik ist Trotzkis Ratschlag an die US-SWP bezüglich des Ludlow-Amendments ein weiteres brillantes Beispiel für seine prinzipientreue und doch äußerst flexible Methode.
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schlug der Kongressabgeordnete Louis Ludlow aus Indiana eine Änderung der US-Verfassung vor, die ein nationales Referendum über jede Kriegserklärung des Kongresses vorgeschrieben hätte, außer in Fällen, in denen die Vereinigten Staaten zuerst angegriffen worden waren. Die Massen hatten gewisse Illusionen in diese bürgerlich-demokratische Reform, da sie den kommenden Krieg fürchteten und nach Möglichkeiten suchten, ihre politischen Führer zur Verantwortung zu ziehen. Wie sollten sich Marxisten erfolgreich mit denen verbinden, die Illusionen in diese Novelle hatten, ohne selbst „Illusionen“ in die bürgerliche Demokratie, den Liberalismus oder den Pazifismus zu säen?
Im Übergangsprogramm schreibt Trotzki:
„Keine demokratische Reform an sich kann selbstverständlich die Herrschenden daran hindern, einen Krieg vom Zaun zu brechen, wann immer sie wollen. Davor muss man offen warnen. Aber welche Illusionen auch die Massen bezüglich des Volksentscheids haben mögen, diese Forderung spiegelt das Misstrauen der Arbeiter und der Bauern gegenüber der Regierung und dem Parlament wider. Ohne die Illusionen zu unterstützen, aber auch ohne sie links liegen zu lassen, muss man mit allen Kräften das fortschreitende Misstrauen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker stärken. Je mächtiger die Bewegung für den Volksentscheid um sich greift, um so schneller trennen sich von ihr die bürgerlichen Pazifisten, um so eindeutiger werden sich die Verräter der ‚Kommunistischen‘ Internationale bloßgestellt sehen, umso kraftvoller äußert sich das Misstrauen der Werktätigen gegen die Imperialisten.“
In einer Diskussion mit Shachtman, Cannon und anderen vertieft Trotzki diese Position:
„Das Referendum ist nicht unser Programm, aber es ist ein klarer Schritt vorwärts; die Massen zeigen, dass sie ihre Vertreter in Washington kontrollieren wollen. Wir sagen: Es ist ein progressiver Schritt, dass ihr eure Vertreter kontrollieren wollt. Aber ihr habt Illusionen und wir werden sie kritisieren. Gleichzeitig helfen wir euch bei der Verwirklichung eures Programms. Der Sponsor des Programms wird euch betrügen, wie die SR die russischen Bauern betrogen haben.“
Im gleichen Gespräch erklärt Trotzki:
„Das Ludlow-Referendum kann, wie andere demokratische Mittel, die kriminellen Aktivitäten der 60 Familien nicht aufhalten, die unvergleichlich stärker sind als alle demokratischen Institutionen. Das bedeutet nicht, dass ich auf demokratische Institutionen oder den Kampf für das Referendum oder den Kampf um das Wahlrecht amerikanischer Bürger ab dem Alter von 18 Jahren verzichte. Ich wäre dafür, dass wir einen Kampf darum einleiten; Menschen mit achtzehn sind reif genug, um ausgebeutet zu werden und somit, um zu wählen. Aber das ist nur in Klammern.
Nun wäre es natürlich besser, wenn wir sofort die Arbeiter und die armen Bauern mobilisieren könnten, um die Demokratie zu stürzen und sie durch die Diktatur des Proletariats zu ersetzen, die die einzige Möglichkeit ist, imperialistische Kriege zu vermeiden. Aber wir können es nicht tun. Wir sehen, dass große Massen von Menschen nach demokratischen Mitteln suchen, um den Krieg zu stoppen. Es gibt zwei Seiten: Eine ist völlig fortschrittlich, das heißt, der Wille der Massen, den Krieg der Imperialisten zu stoppen, das fehlende Vertrauen in ihre eigenen Vertreter. Sie sagen: Ja, wir haben Leute ins Parlament [Kongress] geschickt, aber wir möchten sie in dieser wichtigen Frage kontrollieren, die Leben und Tod für Millionen und Abermillionen Amerikaner bedeutet. Das ist ein durch und durch fortschrittlicher Schritt. Aber damit verbinden sie Illusionen, dass sie dieses Ziel durch nur diese Maßnahme erreichen können. Wir kritisieren diese Illusion. Die NK-Erklärung ist völlig korrekt, wenn sie diese Illusion kritisiert. Wenn der Pazifismus von den Massen kommt, ist das eine fortschrittliche Tendenz mit Illusionen. Wir können die Illusionen nicht durch Entscheidungen im Voraus, sondern in gemeinsamer Aktion zerstreuen.
Ich glaube, dass wir zu den Massen sagen können, ihnen offen sagen müssen: Liebe Freunde, unsere Meinung ist, dass wir die Diktatur des Proletariats errichten sollten, aber ihr seid noch nicht unserer Meinung. Ihr glaubt, dass ihr Amerika durch ein Referendum vom Krieg fernhalten könnt. Was werdet ihr machen? Ihr sagt, ihr habt nicht genug Vertrauen in den von euch gewählten Präsidenten und Kongress und möchtet diese durch ein Referendum kontrollieren. Gut, sehr gut, wir stimmen euch völlig zu, dass ihr lernen müsst, selbst zu entscheiden. Das Referendum in diesem Sinne ist eine sehr gute Sache, und wir werden es unterstützen. Ludlow schlug diesen Verfassungszusatz vor, aber er wird nicht dafür kämpfen. Er gehört nicht zu den sechzig Familien, aber gehört zu den fünfhundert Familien. Er hat diese parlamentarische Losung ins Leben gerufen, aber das ist ein sehr ernster Kampf und kann nur von Arbeitern, Bauern und den Massen geführt werden – und wir werden mit euch kämpfen. Die Leute, die diese Mittel vorgeschlagen haben, sind nicht bereit, dafür zu kämpfen. Das sagen wir euch im Voraus.
Dann werden wir nach und nach zu den Vorkämpfern dieses Kampfes. Bei jeder günstigen Gelegenheit sagen wir: Das ist nicht genug; die Magnaten der Kriegsindustrie haben ihre Verbindungen usw. usf.; wir müssen sie auch kontrollieren; wir müssen die Arbeiterkontrolle über die Kriegsindustrie herstellen. Aber auf der Grundlage dieses Kampfes in den Gewerkschaften werden wir die Vorkämpfer dieser Bewegung. Wir können sagen, dass es fast eine Regel ist. Wir müssen mit den Massen voranschreiten und nicht nur unsere Formeln wiederholen, sondern so sprechen, dass unsere Losungen für die Massen verständlich werden.“
Trotzki entwickelte diese Idee auch im Übergangsprogramm:
„Die Arbeiterbewegung der Übergangsepoche hat keinen regelmäßigen und gleichförmigen, sondern einen fieberhaften und explosiven Charakter. Die Losungen sowie die Organisationsformen müssen diesem Charakter der Bewegung untergeordnet werden. Die Routine wie die Pest verabscheuend muss die Führung auf die Initiative der Massen mit höchster Sensibilität antworten. […] Es ist unmöglich, die konkreten Stadien der revolutionären Mobilisierung der Massen vorauszusehen. Die Sektionen der IV. Internationale müssen sich in jedem neuen Stadium kritisch orientieren und diejenigen Losungen ausgeben, welche die Hinwendung der Arbeiter zu einer unabhängigen Politik fördern, den Klassencharakter dieser Politik vertiefen, die reformistischen und pazifistischen Illusionen zerstören, die Verbindung der Vorhut mit den Massen festigen und die revolutionäre Machtergreifung vorbereiten.“
Das ist unschätzbares Material und sehr lehrreich, wenn es um unsere Herangehensweise an die Bewegung hinter Bernie Sanders geht. „Ohne zu unterstützen und ohne Illusionen zu hegen“, haben wir versucht, „mit aller Kraft das fortschrittliche Misstrauen der Ausgebeuteten gegenüber den Ausbeutern“ zu unterstützen, das in diesem Fall durch das DNC und den zutiefst misstrauischen und verhassten Clinton-Obama-Flügel der Demokraten repräsentiert wird.
Auf dem Höhepunkt der Bewegung 2016, bevor Sanders vor Hillary kapitulierte, zu einer Zeit, als er selbst eine unabhängige Kandidatur nicht ausdrücklich ausschloss, sagten wir im Wesentlichen: „Brich mit der Bourgeoisie, übernimm die Macht!“ Die IG sieht das als „Schüren von Illusionen“ in Sanders. Unser Zielpublikum war jedoch nicht Sanders selbst, der sich mit ziemlicher Sicherheit dem Druck der herrschenden Klasse beugen würde (wie wir bei mehreren Gelegenheiten betonten). Vielmehr sprachen wir jene Anhänger von Sanders an, deren Vertrauen in die Demokraten erschüttert worden war, und vor allem die fortgeschrittenen Menschen, die wütend waren und nach Sozialismus außerhalb des Zweiparteiensystems suchten.
Erfahrung ist der mächtigste Lehrer. Aber sie kann durch gut abgestimmte und durchdachte Losungen und Forderungen beschleunigt werden. Das ist jedoch nicht so einfach, wie jemanden „anzuprangern“ – die Leute müssen ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Unser Ziel war es, einen Keil in die Risse zu treiben, die sich zwischen dem DNC und denjenigen aufgetan hatten, die die Demokraten gegen die Republikaner unterstützen, weil es keine Alternative gibt. Spätere Ereignisse beweisen zweifelsfrei, dass es viele Tausende von Menschen gibt, die „wütend sind und nach Sozialismus außerhalb des Zweiparteiensystems suchen.“
Um die IMT als Reformisten und Klassenkollaborateure darzustellen, müssen die Linksradikalen eine einseitige, stark verkürzte Auswahl von Zitaten präsentieren, die aus Tausenden von Worten ausgewählt wurden, die in jeder Phase des Phänomens Sanders geschrieben wurden. Es ist eine totale Falschdarstellung zu sagen, dass die IMT „eine langjährige Position“ hat, Sanders zum Aufbau einer sozialistischen Massenpartei aufzurufen. Die Art und Weise, wie wir über Sanders schrieben, bevor seine Kandidatur Fahrt aufnahm, war ganz anders als die Art und Weise, wie wir am Vorabend seiner Kapitulation auf dem DNC über ihn schrieben, oder wie wir heute über ihn schreiben, obwohl unsere grundsätzliche Position die gleiche geblieben ist.
Nicht ein einziges Mal haben wir gesagt, dass Sanders, der als Demokrat kandidiert, den Sozialismus herbeiführen würde oder könnte, oder dass seine Art von „Sozialismus“ etwas anderes ist als linker Populismus oder rechter Reformismus, bestenfalls. Was wir gesagt haben, ist, dass er schon heute als Katalysator für einen Bruch mit den Demokraten dienen könnte, der potenziell Kräfte freisetzen könnte, die sich der Kontrolle der herrschenden Klasse entziehen könnten – und dass dies den Weg zu einem Kampf für echten Sozialismus und Revolution öffnen könnte.
Wie wir die Forderungen in der Bewegung erheben, hängt von vielen Faktoren ab. Lenins Position im Laufe des Jahres 1917 war, dass die Arbeiterklasse die Macht übernehmen und eine sozialistische Revolution durchführen sollte. Zu den von ihm entwickelten Hauptparolen gehörten: „Frieden, Land, Brot!“ „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern!“ und „Alle Macht den Sowjets!“ Er schlug keine Slogans vor wie „Stürzt den Kapitalismus!“ „Nieder mit Kerenski!“ „Für eine sozialistische Revolution!“ – obwohl dies seine Ziele waren.
Das Entscheidende war, die Massen zu gewinnen, die immer noch Illusionen in die bürgerliche Demokratie hatten (die zu dieser Zeit in Russland erst ein paar Monate alt war). Diese nicht sonderlich radikal klingenden Forderungen hatten dennoch einen kolossal radikalen Inhalt und führten schließlich zu diesem Ergebnis, indem sie den Massen halfen, durch ihre eigene Erfahrung die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Kapitalismus die Wurzel des Problems war.
Der Aufbau einer revolutionären Massenpartei und der Sturz des Kapitalismus werden große taktische Flexibilität erfordern. Eine dialektische Herangehensweise ist notwendig, wenn wir unseren prinzipiellen Inhalt beibehalten und gleichzeitig die Form dynamisch an die sich ändernden Bedingungen anpassen wollen. Zum Beispiel war Trotzki an einem Punkt für den Bruch mit der Sozialistischen Partei, an einem anderen befürwortete er den Eintritt in genau „dieselbe“ Sozialistische Partei, die 1914 die Arbeiter verraten hatte. Aber es war nur „dieselbe“ im Namen und in der Form – der Inhalt und das Potenzial für den Klassenkmapf hatten sich in der Zwischenzeit verändert. Und Lenin war dafür, dass die jungen Kräfte der britischen Kommunistischen Partei der Labour Party beitraten – einer Partei, die er als „bürgerliche Arbeiterpartei“ charakterisierte.
Ebenso war Trotzki eine gewisse Zeit lang gegen die Unterstützung der Bildung einer Arbeiterpartei in den USA. Später war er dafür. Und obwohl er aktiv die Vierten Internationale aufbaute, befürwortete er gleichzeitig die Entsendung einiger US-amerikanischer Genossen in die Kommunistische Partei – die von Stalin geführte Partei, der damals versuchte, ihn zu ermorden – zu einer Erkundungsmission, um die Möglichkeiten für ein Wachstum durch diese Arbeit zu prüfen. Weit davon entfernt, ein „Wendehals“ zu sein, erkannte Trotzki, dass die veränderten Bedingungen eine andere Taktik oder Aufmachung erforderten, um die gleichen grundlegenden Ziele zu erreichen. Waren Lenin und Trotzki schuldig, in die sozialistischen, stalinistisch-kommunistischen oder Arbeiterparteien „Illusionen zu schüren“?
Oder schauen wir uns das Beispiel des revolutionären Potenzials in Griechenland vom Sommer 2015 an. Leider waren die Genossen der IMT, die auf dem Syntagma-Platz intervenierten, zu wenige, um einen entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse zu haben – aber sie taten ihr Bestes! Sie verkauften Hunderte von Zeitungen und verteilten Tausende von Flugblättern, in denen sie die Führung von Syriza aufforderten, mit der Troika und dem Kapitalismus zu brechen und mit aller Macht dazu beizutragen, die Energie der Massen über Tsipras‘ Reformismus hinaus in eine offen revolutionäre Richtung zu lenken. Hätten die linksradikalen Sektierer dort jemanden gehabt, können wir uns vorstellen, dass sie Tsipras einfach als Verräter denunziert hätten. Anstatt den Massen zu helfen, aus der Erfahrung zu lernen, sie durch die unvermeidliche Reihe aufeinanderfolgender Annäherungen zu begleiten und möglicherweise sogar dabei zu helfen, die Situation auf die Spitze zu treiben, hätten sie sich damit begnügt, sich damit zu brüsten, dass sie „die ganze Zeit recht hatten“, als Tsipras kapitulierte und die Massenbewegung in eine tiefe Flaute geriet.
Es geht bei der Entwicklung politischer Perspektiven nicht darum, „richtig“ zu liegen, sondern die wahrscheinlichsten Klassenkampfszenarien vorauszusehen, um eine Richtschnur zu haben, wenn wir in den widersprüchlichen Wirbelwind der Ereignisse eingreifen. Es wäre zum Beispiel einfach, „richtig“ zu sein und zu sagen, dass wir „die ganze Zeit wussten, dass Sanders Hillary unterstützen würde.“ In der Tat haben wir von Anfang an gesagt, dass dies das wahrscheinlichste Ergebnis war. Aber das Leben und das Massenbewusstsein sind komplizierter als das. Nichts ist absolut im Voraus festgelegt.
Hätten wir uns nicht mit denen, die Illusionen in Sanders hatten, mit einer ständig aktualisierten Darstellung unserer grundlegenden Position beschäftigt, dann hätten wir nicht die Erfolge erzielt, die wir in den letzten paar Jahren erreicht haben – und die wir weiterhin machen. Einige unserer heutigen Unterstützer begannen als Bernie-Sanders-Anhänger. Was uns betrifft, so ist ein einziger dieser Genossen, der aus seinen Erfahrungen gelernt hat und anschließend helfen kann, andere für eine revolutionäre Perspektive zu gewinnen, hundert linksradikale Sektierer wert, die „die ganze Zeit wussten“, dass Sanders Hillary unterstützen würde.
Und was unsere Arbeit in den unterentwickelten, ehemals kolonialen Ländern betrifft, schimpfen die Linksradikalen wieder, dass wir mit der angeblichen „trotzkistischen Orthodoxie“ brechen.
In Ländern, in denen das Gesetz der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung scharf und chaotisch ausgeprägt ist, ist die Theorie der permanenten Revolution der Schlüssel zum Verständnis der Dynamik von Revolution und Konterrevolution. Unter diesen Bedingungen, insbesondere angesichts der verspäteten sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, können alle Arten von hybriden politischen Formationen entstehen und tun dies auch. Die Arbeiter und armen Bauern können nicht warten, bis die Arbeiter in den wirtschaftlich entwickelten Ländern die Revolution machen, und sie können auch nicht darauf warten, dass ihre Massenorganisationen und Parteien von den Sektierern genehmigte Reinheitstests bestehen.
Das war der Fall bei der PPP in Pakistan, der PRD in Mexiko und der PSUV in Venezuela. Aber obwohl die Bedingungen in diesen Ländern oft instabiler und verwirrender sind, was zum Teil auf die verschwommenen Klassenverhältnisse zurückzuführen ist, bleibt unsere grundlegende Methode die gleiche. Wo die Marxisten nur im Embryo vorhanden sind und keine Massenpartei der Arbeiterklasse existiert, müssen wir die weitsichtigsten Individuen gewinnen, wo immer wir sie finden können, sie in der marxistischen Methode schulen und sie auf die Arbeiterklasse orientieren. Das bedeutet manchmal, in und um einige dieser hybriden Formationen herum zu arbeiten. Wenn es eine Sünde ist, die Arbeiter, die städtischen Armen und die armen Bauern durch die Erfahrung zu begleiten, einen Weg aus der Sackgasse des Kapitalismus zu finden, während wir dafür kämpfen, sie für den revolutionären Marxismus zu gewinnen, dann bitten wir die Hüter der heiligen Tafeln um Vergebung, denn wir haben gesündigt.
Ehrlich gesagt, all dies scheint so grundlegend zu sein, dass es fast peinlich ist, es immer wieder zu wiederholen. Aber für die Linksradikalen ist die Methode von Lenin und Trotzki unverständlich. Sie können einfach nicht begreifen, dass es nicht nur auf die spezifischen Worte ankommt, sondern vielmehr auf die theoretische, strategische und taktische Methode, die hinter diesen Worten steht. Was die IMT betrifft, so vertreten wir die marxistische Methode, nicht weil „Lenin und Trotzki das gesagt haben“ oder weil sie zu 100 Prozent richtig lagen, sondern weil sie in neunundneunzig von hundert Fällen brillant richtig lagen.
Fazit
Die amerikanische Linke befindet sich seit Jahrzehnten in einer langgezogenen Krise. Sie hat den Gesetzen der Schwerkraft lange Zeit getrotzt – aber alles hat eine Grenze. In dieser Epoche des aufsteigenden Klassenkampfes und der kapitalistischen Krise erntet die Linke nun, was sie lange Jahre gesät hat. Ihre politischen und organisatorischen Fehler haben zu einer kolossalen Krise des politischen Vertrauens in ihre Führung und Ideen geführt.
Die IMT ist eine kleine Organisation. Dafür sind wir in der Vergangenheit oft verspottet worden. Aber unsere Kritiker haben ein wichtiges Detail übersehen – wir sind die einzigen mit einer gesunden revolutionären marxistischen DNA. Das ist es, was uns Vertrauen gibt und uns durch die vielen Höhen und Tiefen der letzten dreißig Jahre getragen hat.
Wir sind noch dabei, den ersten Kern von Kadern aufzubauen und befinden uns noch hauptsächlich in einer Propagandaphase. Die Menschen wollen und brauchen viele Ideen und Erklärungen, wenn wir sie gewinnen wollen. Die Menschen sind kritischer und bis zu einem gewissen Grad auch zynischer als je zuvor. Agitatorische Slogans spielen eine wichtige Rolle in unserer Arbeit. Jedoch lassen sich die meisten Menschen heute nicht allein durch agitatorische Slogans gewinnen – aber auch das wird sich in Zukunft ändern.
Indem wir uns auf die Ideen des Übergangsprogramms stützen, sind wir auf dem richtigen Weg geblieben. Wir verstehen, dass Perspektiven eine Wissenschaft sind, während Parteiaufbau eine Kunst ist. Wir sind weder Sektierer noch Opportunisten. Wir sehen die Klassenlinien klar und haben immer unsere Klassenunabhängigkeit bewahrt. Unsere Aufgabe ist es, diese Linie dem Rest der Arbeiterklasse durch geduldige Erklärungen und gemeinsame Erfahrungen klar zu machen – nicht durch selbstherrliche Denunziationen.
Unsere Hauptaufgabe bleibt die gleiche, die Trotzki 1938 skizzierte:
„Die strategischen Aufgaben bestehen darin, den Massen zu helfen, ihre Mentalität politisch und psychologisch an die objektive Situation anzupassen, die vorurteilshaften Traditionen der amerikanischen Arbeiter zu überwinden und sie [ihre Mentalität] an die objektive Lage der sozialen Krise des ganzen Systems anzupassen.“
Und im Übergangsprogramm:
„Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. Die Lösung dieser strategischen Aufgabe ist jedoch undenkbar ohne die sorgfältigste Aufmerksamkeit gegenüber allen Fragen der Taktik, selbst den geringfügigen und partiellen. Alle Teile des Proletariats, alle seine Schichten, Berufe und Gruppen müssen in die revolutionäre Bewegung hineingezogen werden.“
Das ist der Kurs, den die IMT einschlagen wird. Wir laden alle ein, die die siegreiche sozialistische Revolution noch zu unseren Lebzeiten erleben wollen, sich uns anzuschließen.
Nachtrag
Ein paar Wochen nach dem Austritt des IG-Unterstützers aus der IMT brachte die IG eine Broschüre mit den üblichen Kritiken an der „reformistischen Linken“ heraus – was ihrer Ansicht nach die IMT einschließt. Sie stellten die Person als den Führer der „Linken Opposition“ der IMT dar, einen heldenhaften Märtyrer, der die bösartige Unterdrückung der Führung ertrug, während er standhaft den Trotzkismus verteidigte. Die Wahrheit ist, dass er keine solche „Linke Opposition“ anführte, niemanden für seine Ansichten gewann und aus eigenem Entschluss ging, nachdem er jede Chance erhalten hatte, seine Genossen zu überzeugen. Aber warum sollen die Fakten eine gute Geschichte ruinieren?
Die niedere Unehrlichkeit dieser Leute kommt voll zum Vorschein, wenn man sich anschaut, was sie aus der Korrespondenz des US-Exekutivkomitee mit dem Vermerk „[zensiert]“ herausgeschnitten haben. Aus dem Material, das entfernt wurde, ist der Zweck offensichtlich: die IG möchte die IMT als undemokratisch verunglimpfen, weil sie ihrem Genossen nur organisatorisch und nicht politisch geantwortet habe:
1. Aus dem EK-Brief vom 14. März ist ein wesentlicher Teil des ersten Absatzes entfernt worden:
„Keine der Meinungsverschiedenheiten, die du darin ansprichst, sind während deiner Zeit in NYC entstanden; du hast sie nicht bei den Genossen in MSP angesprochen, als sie zum ersten Mal aufkamen, und du hast sie nicht bei den Genossen angesprochen, die du aus Ihrer Zeit in NYC gut kanntest – obwohl du einige von ihnen während der Ferienpause gesehen hast. Stattdessen hast du mehrere Monate gewartet und dann eine vollständig ausgearbeitete Position schriftlich vorgelegt, noch bevor grundlegende Diskussionen über die von dir aufgeworfenen Fragen geführt werden konnten.“
2. Am Ende desselben Briefes hat er die Einladung des EKs, sich mit ihm zu treffen, falls er während der Frühjahrsferien in NYC wäre, entfernt:
„Wir verstehen, dass bald Frühlingsferien an der U of M. sind. Könntest du für ein paar Tage nach NYC kommen? Wenn ja, wäre das eine ausgezeichnete Gelegenheit für dich, sich persönlich mit Genossen aus dem Nationalen Center zu treffen, um deine Kritik persönlich zu diskutieren. Wir freuen uns auf deine Antworten auf die obigen Fragen und hoffen, dass wir die Möglichkeit haben, uns persönlich zu treffen, falls du in den Frühjahrsferien in NYC sein wirst.“
3. Im EK-Brief vom 25. März streicht er einen wesentlichen Teil des ersten Absatzes, in dem auch die Versuche erwähnt werden, ihn zur demokratischen politischen Diskussion zu bewegen:
„Wir dachten, wir würden ein paar Tage warten, bevor wir antworten, um zu sehen, ob du deinen Genossen vor Ort antworten würdest und ob wir vielleicht in der Lage wären, persönlich in NYC zu diskutieren, während du in den Frühlingsferien bist. Aber du hast dich eindeutig entschieden, auch deren Bitte um Klärung zu ignorieren und hast auf unsere Einladung, sich zu treffen und zu diskutieren, nicht geantwortet. Mit den Mitgliedschaftsrechten kommen auch Mitgliedschaftspflichten. Zu diesen Pflichten gehört, dass man immer ehrlich und aufrichtig zu seinen Genossinnen und Genossen sein muss. Deine Nicht-Antwort spricht sehr für das Gegenteil.“
und außerdem:
„Eine umfassende Diskussion der von dir angesprochenen Punkte hat in der MSP in deiner Niederlassung und bei den MSP-Treffen begonnen. Das Thema des letzten Treffens wurde im letzten Moment geändert, um deine Fragen anzusprechen (obwohl mehrere Genossen bereits Referate zu anderen Themen vorbereitet hatten). Es wurden mehrere zukünftige MSP-Treffen anberaumt, um jede Frage der Reihe nach zu diskutieren, um das politische Verständnis aller für diese Fragen zu heben.“
4. Am Ende desselben Briefes entfernt er eine weitere Einladung zu einer Diskussion mit dem EK:
„Wir erwarten dennoch deine Antworten auf unsere sehr direkten Fragen und laden dich noch einmal ein, sich persönlich zu treffen, um alle deine Meinungsverschiedenheiten persönlich zu besprechen, wenn du noch in NYC bist. Wenn es dir wirklich ernst damit ist, deine Ideen und Bedenken zu klären, wäre dies eine perfekte Gelegenheit zu diskutieren.“
5. Eine weitere Löschung aus dem EK-Brief vom 26. März:
„Warum hast du sich nicht gemeldet, um deine Zweifel mit den Genossen in New York zu besprechen, mit denen du einst eine enge politische und sogar freundschaftliche Verbindung hattest? Warum hast du die Einladung des EK, sich persönlich zu treffen, während du in NYC warst, nicht angenommen oder auch nur zur Kenntnis genommen, oder zumindest erklärt, warum das nicht möglich war? Vielleicht wärst du von unseren Argumenten nicht überzeugt gewesen, aber hätten nicht deine eigenen Genossen die Möglichkeit haben sollen, diese Fragen mit dir zu diskutieren? An welchem Punkt hast du angefangen, dem Wort einer Sekte mehr zu vertrauen als dem deiner eigenen Genossen?“
Diese Auslassungen sagen alles, was über diese sogenannten Verteidiger des „Trotzkismus“ gesagt werden muss.