Aus einem Brief an die Kiewer Genossen. Prawda, 31. Mai 1923.
Liebe Genossinnen und Genossen,
ihr beklagt euch, dass ihr nicht einmal ein Zehntel der Bücher, die euch interessieren, lesen konntet und ihr fragt, wie ihr eure Zeit vernünftig einteilen sollt. Das ist eine sehr schwierige Frage, denn letztlich muss jeder Mensch eine solche Entscheidung nach seinen besonderen Bedürfnissen und Interessen treffen. Es sollte jedoch gesagt werden, dass das Ausmaß, in dem eine Person in der Lage ist, mit der aktuellen Literatur Schritt zu halten, ob wissenschaftlich, politisch oder anderweitig, nicht nur von der vernünftigen Aufteilung der eigenen Zeit abhängt, sondern auch von der Vorbildung des Einzelnen.
Was euren konkreten Hinweis auf die „Parteijugend“ betrifft, so rate ich euch, überhastet und übernehmt euch nicht, springt nicht von einem Thema zum anderen und schreitet nicht zu einem zweiten Buch, bevor das erste nicht richtig gelesen, durchdacht und bewältigt wurde. Ich erinnere mich, dass auch ich, als ich selbst zur Kategorie „Jugend“ gehörte, das Gefühl hatte, dass einfach nicht genug Zeit da war. Selbst im Gefängnis, als ich nichts anderes tat als zu lesen, schien es, als könne man an einem Tag nicht genug schaffen. In der ideologischen Sphäre, genau wie in der ökonomischen, ist die Phase der primitiven Akkumulation die schwierigste und mühsamste. Und erst wenn man bestimmte Grundelemente des Wissens und vor allem Elemente der theoretischen Fertigkeit (Methode) genau beherrscht, sie sozusagen in Fleisch und Blut der eigenen geistigen Tätigkeit übergegangen sind, wird es leichter, mit der Literatur nicht nur in den vertrauten Gebieten, sondern auch in benachbarten und noch weiter entfernten Wissensgebieten Schritt zu halten, denn die Methode ist schließlich universell.
Es ist besser, ein Buch zu lesen und es gut zu lesen. Es ist besser, ein kleines Stück auf einmal zu meistern und es gründlich zu meistern. Nur auf diese Weise wird sich eure geistige Auffassungsgabe auf natürliche Weise erweitern. Das Denken wird allmählich Vertrauen in sich selbst gewinnen und produktiver werden. Mit diesen Vorbemerkungen im Hinterkopf wird es nicht schwer sein, eure Zeit vernünftig einzuteilen. Dann wird der Übergang von einer Beschäftigung zur anderen in gewissem Maße Vergnügen bereiten.
Mit solidarischen Grüßen,
L. Trotzki, 29. Mai 1923