Ende Mai erschütterte eine brutale Messerattacke in Hamburg die Öffentlichkeit: Eine 39-jährige Frau stach am Hauptbahnhof plötzlich und wahllos auf wartende Fahrgäste ein. 18 Menschen wurden verletzt. Noch bevor offizielle Informationen überhaupt vorlagen, hallten in Sozialen Medien schon altbekannte rassistische Reflexe wider: Es müsse sich wiedereinmal um einen „ausländischen Täter“ handeln; das Problem wurde als „importiert“ betitelt und es wurden härtere Abschiebemaßnahmen gefordert. Doch schnell stellte sich heraus: Die Täterin ist deutsche Staatsbürgerin, ohne festen Wohnsitz und mutmaßlich psychisch krank.
Genau hier liegt der eigentliche Skandal. Diese Tat ist, wie viele andere, keine Frage der Nationalität, sondern ein Symptom einer Gesellschaft, in der psychische Krisen alltäglich geworden sind und systematisch ignoriert werden. Erst einen Tag zuvor wurde die Tatverdächtige aus einer geschlossenen psychiatrischen Klinik entlassen, mit der Begründung, es gäbe keinen Behandlungsbedarf mehr.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die psychische Belastung in Deutschland dramatisch verschärft. Im Jahr 2023 erreichte die Zahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen mit 132 Millionen einen neuen Höchststand, verglichen mit 126 Millionen im Jahr 2021 und 61 Millionen im Jahr 2002. Im Jahr 2023 wurde 16,7% der Erwachsenen in Deutschland eine depressive Störung diagnostiziert, die Tendenz ist über die Jahre stetig steigend. Besonders betroffen sind Jugendliche und ältere Menschen.
Gleichzeitig stagniert die Anzahl der kassenfinanzierten Psychotherapieplätze seit den 1990er Jahren. Obwohl die Nachfrage nach psychotherapeutischer Hilfe steigt, bleibt das Angebot begrenzt. Die Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt im Durchschnitt fünf Monate. Spezialambulanzen für beispielsweise Autismus-Spektrum-Störung haben Wartelisten von bis zu zwei Jahren oder gar einen vollständigen Aufnahmestopp. Diese Versorgungslücke führt dazu, dass viele Betroffene keine rechtzeitige Hilfe erhalten.
Ein weiterer Widerspruch zeigt sich in der Ausbildung von Psychotherapeuten. Obwohl die Reform des Psychotherapeutengesetzes von 2019 eine bessere Ausbildung versprach, fehlt es an der Finanzierung der fünfjährigen Weiterbildung, die nach dem Masterstudium erforderlich ist. Ambulanzen und Praxen können die notwendigen Weiterbildungsstellen nicht finanzieren, da die Einnahmen aus der Patientenbehandlung nicht ausreichen, um ein angemessenes Gehalt zu zahlen und die Weiterbildungskosten zu decken. Kliniken verfügen nur über begrenzte Planstellen, die für die Weiterbildung umgewandelt werden können. Diese Finanzierungslücke führt dazu, dass nicht genügend Weiterbildungsplätze zur Verfügung stehen.
Die Konsequenzen zeigen sich fast täglich. Die Tat in Hamburg hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn ein stabiles, öffentlich zugängliches Versorgungsnetz existieren würde, das Betroffene nicht nach Schema F entlässt, sondern individuell auffängt. Doch in einem System, das nach Profitlogik organisiert ist, fällt die Gesundheit unter den Tisch, weil sie sich nicht rentiert.
Die Kosten werden auf die Betroffenen abgewälzt, die keine andere Wahl haben, als lange Wartezeiten und unzureichende Hilfe in Kauf nehmen zu müssen. In der Realität bedeutet das: Wer keine Kraft, kein Geld und keinen festen Wohnsitz hat, fällt durch das Raster und ist mit gesundheitlichen Problemen weitgehend auf sich selbst gestellt.
Die Krise, die wir zurzeit erleben, ist kein willkürliches Ereignis. Sie ist das hässliche Gesicht der sich zuspitzenden Widersprüche des kapitalistischen Systems. In einem System, das Profit über Bedürfnisse stellt, ist es kein Wunder, dass psychisches Leid zur Massenerscheinung wird. Die Krankheit ist nicht individuell, sie ist strukturell.
Permanente Unsicherheit im Job, Konkurrenzideologie und Individualismus, steigende Lebenshaltungskosten, prekäre Wohnverhältnisse, entfremdete Arbeit ohne ersichtlichen Sinn; all das sind Produkte kapitalistischer Widersprüche. Das bürgerliche Mantra „Jeder ist seines Glückes Schmied“ verkehrt diese strukturelle Belastung zusätzlich ins Persönliche und isoliert Betroffene. Was eigentlich ein Ausdruck kollektiver Not ist, wird als individuelles Scheitern wahrgenommen und reproduziert damit Scham und Schweigen. Diese Spannungen zerfressen das gesellschaftliche Zusammenleben und greifen tief in das Bewusstsein und in die psychische Konstitution des Einzelnen ein. Sie erzeugen ein Klima ständiger Überforderung und existenzieller Angst. Der Mensch wird reduziert auf seine Leistungsfähigkeit: Wer nicht funktioniert, gilt als Belastung.
Die Lösung liegt nicht in bloßen Reformen, sondern in der grundlegenden Umwälzung des Systems. Psychische Gesundheit darf nicht länger als individuelle Verantwortung oder teures Privileg behandelt werden, sondern muss als unantastbares, öffentliches Gut allen Menschen frei und umfassend zugänglich sein – unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Aufenthaltsstatus. Die Ausbildung von Psychotherapeuten muss vollständig staatlich finanziert, bedarfsorientiert geplant und demokratisch organisiert werden. Die Zahl der Therapieplätze muss massiv ausgebaut werden.
Doch das allein reicht nicht. Solange die Gesellschaft der Logik des Marktes folgt, steht nicht das Wohlergehen der Menschen im Zentrum, sondern die Maximierung von Profit. Das ist der Grund für die immer weiter bröckelnde Gesundheitsversorgung.
Es braucht eine sozialistische Alternative: Eine Gesellschaft, in der Versorgung planwirtschaftlich, demokratisch und bedürfnisorientiert organisiert ist. Eine Gesellschaft, in der die Gesundheit der Vielen wichtiger ist als der Reichtum der Wenigen; in der Solidarität nicht die Ausnahme, sondern der Grundpfeiler des Zusammenlebens ist.
Die derzeitige Krise ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines Systems, das den Profit über das Wohl der Menschen stellt. Es ist an der Zeit, diesen Widerspruch zu überwinden und eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Gesundheit und Bedürfnisse aller Menschen Priorität hat.