Seit über einem halben Jahr nach dem Zusammenbruch des Bahnhofsdachs in Novi Sad vollzieht sich ein politisches Erdbeben in Serbien, angeführt durch die studentische Jugend. Was mit der Forderung nach einer politischen Aufklärung der Tragödie vom 1. November 2024 begann, hat sich mittlerweile in eine ausgereifte Massenbewegung entwickelt.
Das Misstrauen in alle bürgerlichen Institutionen und offiziellen oppositionellen Kräfte hat sich von Beginn an in der Selbstorganisation der Studenten in Plena an den Unis ausgedrückt. Entgegen dem korrupten Regime des Präsidenten Aleksandar Vučić stellten die Plena tatsächliche demokratische Werkzeuge der Bewegung dar. Sie waren offen für alle Studenten, diskutierten und stimmten über die Ausweitung der Proteste ab.
Das war das Grundgerüst für die Proteste in den ersten Monaten. Mit Hilfe der bzw. durch die Plena selbst wurden heroische Streiks und Proteste organisiert, wie der Busfahrerstreik im Dezember, die Besetzung des Infrastrukturministeriums und schließlich ein großer Streik von IT-, Bildungs-, Presse- und Kulturarbeitern, der zum Rücktritt des Ministerpräsidenten im Februar führte.
Selbstorganisation der Massen
Vučić brachte durch seine Kompromisslosigkeit den Studenten jedoch bei, dass es weit mehr braucht als vereinzelte Streiks und Massendemonstrationen. Gestärkt durch die breite Unterstützung riefen die Studenten deshalb Anfang März zu einem Generalstreik und der landesweiten Bildung von „Zborovi“ (z.Dt. „Räte“) auf, um so viele Menschen wie möglich in den Kampf mit einzubeziehen. In über 50 Städten und Gemeinden hat dieser Aufruf zur Selbstorganisation Widerhall gefunden.
Jetzt waren es nicht mehr nur Studenten, die den Kampf vorantrugen. Die Zborovi haben gerade deshalb revolutionäres Gewicht, weil sie durch ihr Einbeziehen aller Schichten der Arbeiterklasse beginnen, die Interessen des Proletariats als Klasse zu vertreten.
Dass Vučić und alle „neutralen“ Institutionen des Staates trotz rechtlicher Bestimmungen nicht die Baudokumentationen herausgeben und sie unfähig sind, die andauernde Krise und Armut zu bewältigen, zwingt die Massen in Serbien zum selbstständigen Handeln. So beschlossen beispielsweise die Studenten, den größten TV-Sender zu besetzen, gründeten mit den dortigen Arbeitern ein Zbor und strahlten die gemeinsamen Forderungen des Rats und der Studenten landesweit aus.
Schule der kommenden Revolution
Die Bewegung steht an einem Scheideweg. Bisher wurde keines ihrer Ziele erreicht. Um das zu schaffen, muss die Studentenschaft die Zborovi weiter im Land und auf die Betriebe ausweiten und sie in einem landesweiten Zbor vereinigen. Das würde die Bewegung befähigen, den lang ersehnten Generalstreik durchzuführen, der beim ersten Versuch wegen der Passivität der Gewerkschaftsführung noch begrenzt blieb. Sie könnte Vučić so nicht nur stürzen, sondern mit den Räten selbst die Macht übernehmen. Das wäre der einzige Ausweg aus der Krise, welche die tatsächliche Wurzel der Proteste darstellt.
Das Grundproblem ist aber, dass sich die komplette Entwicklung hin zu den Zborovi unbewusst vollzieht, weil die nächsten Schritte der Bewegung spontan aus den direkten Erfahrungen im Klassenkampf abgeleitet werden. Darin macht sich das Fehlen einer kommunistischen Partei deutlich, die durch die Einsicht in die Dynamik des Klassenkampfes der unbewussten Entwicklung ein Bewusstsein für die nächsten Schritte entgegenhalten kann.
Die unmittelbare Zukunft der Bewegung ist deswegen unklar. Was aber die kommenden Jahre und Jahrzehnte betrifft, ist die Zukunft klar gesetzt: Serbien, aber auch Europa, entwickelt sich zu einem Knotenpunkt der Weltrevolution. Abermillionen Menschen schreiben in Südosteuropa nach Jahrzehnten von Passivität wieder ihre eigene Geschichte und machen ihre Erfahrung im Kampf gegen die korrupte Kapitalistenclique. Egal ob sie siegen, einen Teilsieg erringen oder Vučić noch im Amt bleibt: Diese Erfahrungen bilden die Schule der kommenden serbischen Revolution!