Die Bolschewiki schafften es bis Oktober 1917, die Massen auf ihre Seite zu ziehen. Nur so konnte die Revolution erfolgreich sein. Das wichtigste Element für den Erfolg war die Fähigkeit, sich mit den Massen zu verbinden und sie von der Richtigkeit der revolutionären Ideen zu überzeugen. Dafür nutzten die Bolschewiki unter anderem die Arbeit im russischen Parlament.
Daraus ergaben sich jedoch einige Kontroversen innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Auf der einen Seite standen die Menschewiki, die sich opportunistisch an die Liberalen klammerten, und auf der anderen Seite gab es linksradikale Gruppierungen innerhalb der bolschewistischen Fraktion, die gegen die Beteiligung an den Wahlen waren. Als Kommunisten haben wir keine Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Warum sollten wir dennoch die Taktik der Bolschewiki, inklusive der Arbeit in den Parlamenten studieren?
Der Beginn der 1905 Revolution
Am 9. Januar 1905 begann die erste Revolution in Russland. Lenin bezeichnete sie als „Generalprobe“ für die Oktoberrevolution 1917. Angeführt von dem Priester Georgii Gapon marschierte eine friedliche Demonstration von etwa 140.000 verarmten Arbeitern und Bauern zum Winterpalast des Zaren. Mit einer Petition baten sie um Hilfe für ihre verzweifelte Lage.
Doch ihr Bitten stieß auf taube Ohren. Der Zar ordnete seine Truppen an, die Demonstration niederzugeschlagen – sie töteten und verletzten 4.600 Menschen. Dieses Ereignis ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein und erschütterte die Massen im gesamten Zarenreich. Die brutale Reaktion führte dazu, dass sich die aufgestaute revolutionäre Energie der Massen entlud.
Am 10. Januar wurden in St. Petersburg Barrikaden errichtet. Innerhalb einer Woche legten 160.000 Arbeiter die Arbeit nieder. Die Streiks weiteten sich schnell auf andere Gebiete aus. Im Januar streikten rund 400.000 Arbeiter in ganz Russland. Überall trafen Arbeiter in Massenversammlungen zusammen und gründeten Komitees. Die Revolution breitete sich auch aufs Land aus.
Ein Parlament für den Zaren oder Arbeiterräte?
Im August veröffentlichte der Zar ein Manifest, das ein neues Parlament, die Duma, vorsah. Er versprach den Großgrundbesitzern und der städtischen Mittelschicht das Wahlrecht, schloss aber den Großteil der Bevölkerung davon aus. Dieses Parlament war dem Zaren völlig untergeben und durfte nur kleine gesetzgeberische Fragen behandeln. Alle Entscheidungen mussten vom Zaren abgesegnet werden.
Dieses zaghafte Zugeständnis sollte die Revolution stoppen und die Massen desorientieren. Aber das war ihnen zu wenig. Sie erschufen bereits ihre eigenen politischen Organe – die Räte (Sowjets). Die Massen ließen sich von dem Ablenkungsmanöver des Zaren nicht beirren. Sie hatten wenig bis kein Vertrauen in das neue Parlament. Die Revolution ließ die Massen ihre Stärke spüren – sie antworteten dem Zaren mit einer Streikwelle.
Aus eigener Initiative organisierten die Arbeiter Streikkomitees, um die wachsende Zahl von Streiks zu leiten. Ein zentrales Streikkomitee wurde errichtet, was im Oktober zum St. Petersburger Sowjet wurde, dessen Größe und Einfluss rasant wuchs.
Weil die Bewegung der Massen auf einen gesamtrussischen Aufstand zusteuerte, sprachen sich die Bolschewiki für einen Boykott der Wahlen aus. Sie erklärten, dass nur der Sturz des Zarismus durch die revolutionären Aktionen der Massen den Boden für eine echte Demokratie bereiten könne. Die Führung der Menschewiki schwankte und bezeichnete diese Reformen als den Beginn eines echten Parlamentarismus in Russland. Aber die Genossen an der Basis waren instinktiv gegen eine Teilnahme an der Duma.
Der bolschewistische Boykott des Parlaments knüpfte an der allgemeinen revolutionären Stimmung der Massen an. Denn der Kampf drehte sich um die Frage, ob die Einberufung eines Parlaments in den Händen des Zaren verbleiben oder dieser alten Staatsmacht entrissen werden solle. Schließlich fand 1905 keine Duma-Wahl statt, weil die revolutionäre Bewegung dies verhinderte.
Fehlerhafter Boykott
Im Dezember 1905 fand eine gemeinsame Konferenz zwischen den Menschewiki und Bolschewiki statt. Dort wurde die Frage kontrovers diskutiert, ob die russische Sozialdemokratie im Jahr 1906 an der Duma-Wahl teilnehmen oder diese boykottieren sollte.
Zum Zeitpunkt der Konferenz ebbte die revolutionäre Bewegung bereits ab, sodass die Taktik des Boykotts ineffektiv wurde. Die Bolschewiki erkannten diese Änderung der objektiven Lage allerdings nicht und entschieden sich erneut mit einer großen Mehrheit für den Boykott der Duma. Auch Lenin glaubte, dass das Abebben eine temporäre Erscheinung sein würde. Dennoch war er gegen den Boykott und stimmte mit einem einzigen weiteren Delegierten dagegen.
Weil die Bewegung abebbte, hätte die revolutionäre Partei jede legale Möglichkeit nutzen müssen, ihr Programm in die Massen zu tragen. Die Taktik des Boykotts hat nur dann eine Berechtigung, wenn die revolutionäre Bewegung stark genug ist, das Parlament mit eigenen Machtorganen (den Sowjets) zu ersetzen. Das war sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Der Boykott war ein Fehler.
Die Wahl zur ersten Duma 1906 brachte eine neue reaktionäre Regierung mit Pjotr Stolypin hervor. Das Ziel der Regierung war es, ein erneutes Aufflammen der Revolution zu verhindern. Stolypin brachte einige Notverordnungen gegen die Massenaufstände auf den Weg, wie zum Beispiel das Kriegsgericht, die Schließung von Zeitungen und das Verbot von Gewerkschaften. Auch auf dem Lande wüteten die reaktionären Truppen des Zaren, die hunderte Bauern ermordeten, um mögliche Bauernaufstände vorzubeugen.
Opportunismus im Parlament
Bei der Duma-Wahl wurde die liberale Konstitutionell-Demokratische Partei (Kadetten) zweitstärkste Kraft. Die Menschewiki hatten 18 Sitze im Parlament. Sie biederten sich an die Kadetten an, denen sie die Zusammenarbeit in einer „verantwortungsvollen Regierung“ anboten. Die Menschewiki hatten schon vor 1905 Illusionen in die Liberalen. Sie vertraten die Theorie, dass die Arbeiterklasse sich dem fortschrittlichen Bürgertum in politischen Fragen unterordnen sollte, um den Zarismus und feudale Strukturen zu bekämpfen. Die Menschewiki leiteten daraus ab, dass die russische Sozialdemokratie die Liberalen unterstützen müsse.
Diese falsche Strategie beruhte auf der anti-marxistischen Etappentheorie. Sie ging davon aus, dass in Russland der Feudalismus durch den Kapitalismus ersetzt werden müsse, damit dann die Grundlagen für den Sozialismus heranreifen können. Deshalb gingen die Menschewiki davon aus, dass eine bürgerliche Revolution in Russland anstand, die von der Bourgeoisie durchgeführt werden müsste. Die Arbeiterklasse könnte sie dabei nur unterstützen. Weil aber die Voraussetzungen für den Sozialismus nicht gegeben wären, müssten die Arbeiter auf sozialistische Forderungen verzichten.
Die Bolschewiki vertraten eine völlig andere Analyse. Sie stellten heraus, dass die bürgerlichen Parteien Kompromisse mit dem Zarismus suchten. Die Liberalen waren von ihm abhängig und konnten kein Interesse daran haben, die Revolution zum Ziel zu führen. Deshalb war nur die Arbeiterklasse revolutionär und in der Lage, den Zarismus und die feudalen Fesseln zu sprengen. Sobald sie auf die Bühne der Revolution treten würden, würden sie für ihre Interessen kämpfen und den Bürgerlichen das Feld nicht überlassen. Die gesamte Geschichte der russischen Revolution hat diese Perspektive bewiesen.
Daraus folgte die Strategie der Bolschewiki, dass die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit von der Bourgeoisie zu jedem Zeitpunkt bewahren und mit einem eigenen Programm kämpfen muss.
Die zweite Duma
Der Zar löste die erste Duma nach 72 Tagen auf. Die Parlamentsabgeordneten wollten eine Agrarreform verabschieden, die er nicht befürwortete. Der Zar setzte bald darauf Wahlen für die zweite Duma an. Erneut stellt sich die Frage: Sollte die russische Sozialdemokratie an den Wahlen zur Duma teilnehmen oder nicht? Lenin war der festen Überzeugung, dass die Taktik des Boykotts bereits bei der Wahl zur ersten Duma ein Fehler war. Deshalb wollte er die Genossen überzeugen, dass sie dieses Mal mit der Taktik brechen.
Taktik kann nicht als etwas Statisches und für alle Zeiten Feststehendes betrachtet werden. Im „Linken Radikalismus“ erklärte Lenin:
„Die Taktik muß auf einer nüchternen, streng objektiven Einschätzung aller Klassenkräfte des betreffenden Staates (und der ihn umgebenden Staaten sowie aller Staaten der ganzen Welt) sowie auf der Berücksichtigung der von den revolutionären Bewegungen gesammelten Erfahrungen aufgebaut werden.“
Deshalb betonte er besonders deutlich, dass die revolutionäre Partei nicht auf legale Arbeit verzichten kann, wenn sich die Revolution auf dem Rückzug befindet. Sie hat die Pflicht, jede Möglichkeit, jede Plattform zu nutzen, die es ihr ermöglicht, sich mit den Massen zu verbinden, deren Selbstaktivität und Klassenbewusstsein zu heben.
Der Boykott würde die Revolutionäre von den Massen isolieren. Für die Avantgarde der Arbeiterklasse war zu dem Zeitpunkt der zweiten Wahl vielleicht klar, dass die Duma kein einziges der Probleme des Proletariats und der armen Bauern lösen konnte. Aber die Massen, vor allem auf dem Lande, waren noch nicht zu dieser Einsicht gelangt. Sie hatten erhebliche Illusionen in die Möglichkeit, Reformen durch das Parlament zu erreichen.
Lenin erklärte, „daß wir das, was für uns erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse, nicht als erledigt für die Massen betrachten.“ Deswegen müssen Kommunisten den parlamentarischen Kampf führen, wenn sich gute Gelegenheiten ergeben, selbst wenn das Parlament nicht das entscheidende Kampffeld für die sozialistische Revolution ist.
Die Wahlen zur zweiten Duma fanden schließlich im Februar 1907 statt. Die Sozialdemokratische Partei boykottierte diese nicht. Die Zusammensetzung des Parlaments war wesentlich linker als die der ersten Duma. Arbeiter- und Bauernparteien waren mit 222 von insgesamt 518 Abgeordneten vertreten.
Der Revolution von 1905 folgten anderthalb Jahre lokale Protestbewegungen und Aufstände auf dem Lande. Erst im Sommer 1907 war die letzte flackernde Glut dieser Bewegung erloschen. Ohne eine Führung in den Städten löste sich die Bewegung der Bauern unweigerlich in eine Reihe von unkoordinierten und ziellosen Aufständen auf, die einer nach dem anderen niedergeschlagen werden konnten.
Jeder dieser Rückschläge stärkte das Selbstvertrauen des Regimes. Überzeugt von der Schwäche der Duma-Abgeordneten und mit dem Abflauen der Bauernbewegung beschloss Stolpyn die zweite Duma abzusetzen. Er forderte erst den Ausschluss von 55 sozialdemokratischen Abgeordneten und die Verhaftung von 16. Im Anschluss ließ er die Verhaftungen durchführen, ohne die Antwort der Duma abzuwarten. Am nächsten Tag suspendierte er die Duma selbst.
Der Zar brachte ein neues Wahlgesetz für die dritte Duma auf den Weg. Dabei wurden Arbeiter und arme Bauern aus den Städten und Dörfern gegenüber dem Großbürgertum benachteiligt. Die Zahl der Abgeordneten wurde verringert.
In der dritten Duma stellten die reaktionären Parteien (Schwarze Hundertschaft, Oktobristen und Kadetten) 409 von 442 Abgeordneten. Die Sozialdemokraten hatten nur 19 Abgeordnete und die Trudowiki (Vertreter des revolutionären Kleinbürgertums auf dem Land) nur 14.
Lenin betonte später, dass diese reaktionäre Duma zumindest das Verdienst hatte, die wirkliche Situation im Lande zum Ausdruck zu bringen.
Bolschewiki im Parlament
Während die Menschewiki opportunistischer wurden, bewegte sich ein Teil der Bolschewiki in die entgegengesetzt, d. h. linksradikale, Richtung. Dieser Teil sprach sich energisch für einen Boykott an den Wahlen zur dritten Duma aus.
Lenin sprach sich vehement dagegen aus. Lenin wusste natürlich, dass dieses Parlament einen reaktionären Charakter haben wird. Er betonte jedoch, dass die Kommunisten in solchen Zeiten die legale und illegale Arbeit kombinieren müssen. Das heißt, dass sie auch in den reaktionärsten Parlamenten arbeiten mussten, um sich eine Bühne zu schaffen.
Während die Debatten mit den Linksradikalen lange anhielten, begannen die bolschewistischen Abgeordneten, nach anfänglichen Schwierigkeiten, eine aktive Rolle in der Duma zu spielen. Angesichts der schwierigen Bedingungen mit Agitation und Propaganda auf die Arbeiter und Bauern einzuwirken, wurde die Duma zu einer wichtigen Säule der Arbeit der Bolschewiki.
Trotz der Hindernisse warfen die bolschewistischen Abgeordneten wichtige Fragen im Parlament auf und bezogen im Interesse der Arbeiterklasse Position: In Fragen des Staatshaushalts, der Rechte von Soldaten, der Kirchensubventionen, der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und vor allem die Landfrage. So bot sich ein breiter Spielraum für Massenagitation und Propaganda.
Was in der Duma nicht gesagt werden konnte, verbreiteten die Bolschewiki in illegalen Veröffentlichungen der Partei. So kombinierten sie geschickt die legale mit der illegalen Arbeit. So konnte sie die revolutionären Grundsätze der Partei bewahren und gleichzeitig eine enge Verbindung zu den Massen aufrechterhalten. Besonders gute agitatorische Reden der Abgeordneten druckten sie ab und verteilten sie unter den Arbeitern.
In allen Fragen haben die Bolschewiki in der Duma die Großgrundbesitzer, die Kapitalisten und die Autokratie gnadenlos bloßgestellt, indem sie von den konkreten Problemen der Massen ausgingen. Gleichzeitig deckten sie die Begrenztheit der Duma selbst auf: „Das Proletariat erwartet natürlich von der Dritten Duma keine Lösung der Arbeiterfrage“, resümierte der bolschewistische Abgeordnete Polowski in einer Debatte über die Löhne der Arbeiter.
Die letzte Duma
Die dritte Duma blieb eine ganze Legislaturperiode bestehen. Die nächste Wahl fand 1912 statt. Die Gesetze zu den Wahlen, die die Arbeiterklasse und Bauern benachteiligten, waren immer noch intakt. Dennoch konnten die Bolschewiki 6 von 9 Arbeitersitzen in der Duma erreichen.
Zu dieser Zeit war die Arbeiterbewegung im Aufschwung, was sich in einem Anstieg von Streiks niederschlug. Die Bolschewiki gewannen durch die Arbeit in der reaktionären Duma mehr und mehr an Einfluss in der Arbeiterklasse.
Es ist schwierig, genaue Zahlen zu ermitteln, weil die revolutionäre Arbeit unter illegalen und halblegalen Umständen stattfand, aber man kann mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Bolschewiki zwischen 1912 bis 1914 von mindestens drei Vierteln der organisierten Arbeiterklasse unterstützt wurden.
Der erste Weltkrieg machte dem Aufschwung des Klassenkampfs vorerst ein Ende. Mit Ausbruch des Kriegs griff die Regierung hart gegen streikende Arbeiter und vor allem gegen Bolschewisten durch. Tausende von ihnen wurden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt oder ins Exil geschickt. Die Parteistrukturen brachen zusammen. Allein in St. Petersburg waren über tausend Partei- und Gewerkschaftsmitglieder wegen ihrer Beteiligung an der Streikbewegung verhaftet worden.
In der Duma-Sitzung vom 26. Juli 1914 nahmen die Abgeordneten einstimmig einen Antrag an, mit welchem sie sich bereit erklärten, für die Verteidigung ihres Landes, seiner Ehre und seines Besitzes einzutreten. Die einzigen, die diesem Antrag nicht zustimmten, waren die sechs Menschewiki, fünf Bolschewiki und die Trudowiki-Abgeordneten. Sie verließen die Sitzung und weigerten sich, für die Kriegskredite zu stimmen.
Gemeinsam mit den Menschewiki reichten die Bolschewiki eine Resolution gegen den Krieg ein, die zwar sehr vorsichtig formuliert war, aber trotzdem Empörung in der Duma hervorbrachte. Später im Jahr kam der finale Rückschlag, als die Abgeordneten der Bolschewiki verhaftet, vor Gericht gestellt und schlussendlich nach Sibirien verbannt wurden. Später rekapitulierte Lenin in „Der ,Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“:
„Der legale Parlamentarismus leistet der Partei des revolutionären Proletariats, den Bolschewiki, infolge des Umstands, daß das ‚Parlament‘ äußerst reaktionär ist, überaus nützliche Dienste. Die bolschewistischen Deputierten wandern nach Sibirien. In unserer Emigrantenpresse kommen alle Schattierungen der Auffassungen des Sozialimperialismus, des Sozialchauvinismus, des Sozialpatriotismus, des inkonsequenten und des konsequenten Internationalismus, des Pazifismus und der revolutionären Ablehnung der pazifistischen Illusionen voll zum Ausdruck. Die gelehrten Dummköpfe und alten Weiber der II. Internationale, die über die Unmenge von ‚Fraktionen‘ im russischen Sozialismus und über den erbitterten Kampf unter ihnen verächtlich und hochmütig die Nase gerümpft hatten, waren, als der Krieg sie in allen fortgeschrittenen Ländern der vielgepriesenen ‚Legalität‘ beraubte, unfähig, auch nur annähernd einen so freien (illegalen) Meinungsaustausch und eine so freie (illegale) Herausarbeitung der richtigen Auffassungen zu organisieren, wie das die russischen Revolutionäre in der Schweiz und in einer Reihe anderer Länder getan haben. Gerade deshalb haben sich sowohl die offenen Sozialpatrioten als auch die ‚Kautskyaner‘ aller Länder als die schlimmsten Verräter des Proletariats erwiesen. Und wenn der Bolschewismus in den Jahren 1917-1920 zu siegen vermochte, so liegt eine der Hauptursachen dieses Sieges darin, daß der Bolschewismus die Widerwärtigkeit, Schändlichkeit und Niedertracht des Sozialchauvinismus und des ‚Kautskyanertums‘ (dem die Richtung Longuets in Frankreich, die Ansichten der Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei und der Fabier in England, Turatis in Italien usw. entsprechen) bereits seit Ende 1914 schonungslos entlarvte, die Massen aber sich nachher durch eigene Erfahrung immer mehr davon überzeugten, daß die Auffassungen der Bolschewiki richtig waren.“
Durch die Arbeit in der Duma seit 1908 konnten die Bolschewiki die Arbeitermassen für sich erobern, indem sie zum einen die legale und illegale Arbeit verknüpften und die bittere Wahrheit über den Zarismus und dem Krieg aussprachen. Zugleich haben sie bei jeder Gelegenheit die Begrenzungen der Duma und des Reformismus aufgezeigt. Sie hatten so die Möglichkeit, mittels Propaganda und Agitation die Massen zu erreichen und konnte die Massen in der Russischen Revolution 1917 erfolgreich vom Reformismus wegziehen und an die Macht führen.
Wo ist die Opposition im Parlament heute?
Heute wächst die Polarisierung in der Gesellschaft. Auf parlamentarischer Ebene drückt sie sich derzeit vor allem nach rechts aus. Seit Jahren ist die Arbeiterklasse Angriffen auf ihren Lebensstandard und demokratische Rechte ausgesetzt. Das Vertrauen in die etablierten Parteien ist deshalb massiv gesunken.
Das es nun so scheint, als würden die Rechten immer stärker werden, ist vor allem die Schuld der linken und rechten Reformisten. Sie vertreten nicht die Interessen der Arbeiterklasse und mobilisieren sie nie zum Kampf gegen die Angriffe durch das Kapital.
Die SPD-Führung und ihre Abgeordneten handeln als Agent der herrschenden Klasse und auch die LINKE hat die Chance verpasst, als klassenkämpferische Opposition im Parlament aufzutreten. Ganz im Gegenteil, da wo sie in Regierungsverantwortung war, hat die LINKE Sparpolitik mitgetragen und sich an die liberalen Parteien angebiedert, wie es schon die Menschewiki taten.
Mit ihrer reformistischen Politik haben die traditionellen Arbeiterparteien ihre eigene Basis ausgehöhlt, denn wachsende Schichten der Arbeiterklasse beginnen nach Alternativen zu suchen, um ihre Interessen durzusetzen. Aber gegenwärtig stehen sie da ohne eine klassenkämpferische, geschweige denn revolutionäre Alternative mit Masseneinfluss.
So erscheint die AfD für manche Schichten der Arbeiterklasse als Opposition, weil sie demagogisch wirkliche politische und soziale Probleme und Ängste aufgreift und die Regierung zum Sündenbock macht. Aber dieser Zustand wird nicht ewig bleiben, wenn die Arbeiterklasse in Bewegung kommt, wird sie die Rechten zur Seite drängen, weil diese ebenfalls die kapitalistische Ordnung verteidigen, wie die etablierten bürgerlichen Parteien.
In Russland gab es mit den Bolschewiki eine revolutionäre Opposition gegen den Zarismus, die Bürgerlichen, die Rechten und damit auch eine Kraft, die die Politik des Reformismus erfolgreich entlarven konnte.
Für uns gilt es heute, eine neue Partei in der Tradition der Bolschewiki aufzubauen, die deren Erfahrung verinnerlich und als Leitfaden für das eigene revolutionäre Handeln nimmt. Lenin hat in seinem Buch „Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ die wesentlichen taktischen Erfahrungen des Bolschewismus zusammengefast. Das gilt es heute zu studieren.