„Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, heißt es im „Bundeslied“, das Georg Herwegh 1863 anlässlich der Gründung des SPD-Vorläufers „Allgemeiner deutscher Arbeiterverein“ (ADAV) schrieb.
Diese Parole prägte Generationen und motivierte sie zu Kämpfen, in denen oft auch große Zugeständnisse erreicht wurden. Heute haben viele Aktive in deutschen Gewerkschaftern allerdings verinnerlicht, dass für Streiks enge gesetzliche Spielregeln gelten und legale Arbeitskämpfe nur für Tarifverträge mit den Unternehmern geführt werden können. Kommt es zu einem Streik, so zeigt sich oftmals eine erstaunlich hohe Kampfbereitschaft nicht nur bei Gewerkschaftsmitgliedern, sondern auch bei Unorganisierten. Dies hat seine Gründe: In der Arbeitswelt hat sich viel Wut angestaut, die sich früher oder später Bahn brechen muss. Es geht letztlich nicht nur um Lohnprozente, sondern um einen Kampf Klasse gegen Klasse.
In diesen Tagen erleben wir weltweit, dass die Idee des politischen Streiks, Massenstreiks oder Generalstreiks keine längst vergangene Geschichte, sondern im 21. Jahrhundert aktueller denn je ist. In Chile lösten Mitte Oktober Massenproteste der Jugend gegen Fahrpreiserhöhungen einen Generalstreik gegen die rechte Piñera-Regierung aus, der Millionen aufgerüttelt und mobilisiert hat. Die Bewegung begann spontan und wurde von keinem Gewerkschafts- oder Parteivorstand geplant oder gar ausgerufen. Sie ist ein Vorbote für den Rest der Welt. Denn überall hat sich „unterirdisch und unsichtbar“ so viel Unbehagen, Frust und Ärger angehäuft, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir auch anderswo „chilenische Verhältnisse“ erleben.
Auch in Deutschland hat der Aufruf der Fridays for Future-Bewegung zum Klimastreik am 20. September 2019 unter Gewerkschaftsmitgliedern neue Debatten über die Idee eines politischen Streiks ausgelöst. Frank Bsirske, bis vor kurzem ver.di-Vorsitzender, rief die Mitglieder seiner Gewerkschaft zur Beteiligung an den Streiks auf, aber „nur außerhalb der Arbeitszeit“. Diskussionen über kreative Möglichkeiten, um etwa über Betriebsversammlungen „ganz legal“ in den Betrieben einen Beitrag zum Klimastreik zu leisten, wurden allerdings vom ver.di-Vorstand ignoriert. Diese Diskussion muss jetzt weiter gehen. Denn linke und klassenkämpferische Gewerkschafter sollten nicht immer nur sagen, was angeblich nicht geht und was wir nicht tun dürfen. Es geht darum Wege aufzuzeigen, wie es doch geht.
Tatsache ist, dass die Bundesrepublik Deutschland im weltweiten Vergleich ein sehr rückständiges und restriktives Streikrecht hat. Das Streikrecht ist lediglich Richterrecht. Im Grundgesetz (GG) findet sich außer der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 kein konkreter Hinweis. Nur in sieben von 16 Bundesländern ist das Streikrecht in den Landesverfassungen verankert. Daraus sollten wir allerdings keineswegs den Schluss ziehen, dass uns für immer und ewig die Hände gebunden sind.
„Gerade in diesen Zeiten von Veränderungen und Transformationen könnten wir irgendwann einmal zu dem Punkt kommen, an dem ein Generalstreik, ein politischer Streik oder eine allgemeine Arbeitsniederlegung durchaus Sinn machen“, sagte die Delegierte Elisabeth Lang beim jüngsten IG Metall-Gewerkschaftstag. Sie brachte damit einen Antrag ihrer Geschäftsstelle Aachen ein, der die Forderung nach einem umfassenden Streikrecht als Zielsetzung der IG Metall in die Gewerkschaftssatzung aufnehmen will. „Wir möchten, dass auch das politische Streikrecht gestärkt wird. Man sollte sich auch gegenüber den politisch Verantwortlichen dafür stark machen, dass das in das Grundgesetz aufgenommen wird. In Frankreich und auch in anderen Ländern ist das möglich, nur bei uns leider noch nicht“, begründete die Kollegin den Antrag, der dann allerdings ohne Diskussion mit großer Mehrheit abgelehnt wurde.
Deutsche Gewerkschaftsapparate sind nach wie vor die größte Bremse für politische Streiks und hindern damit die Arbeiterklasse effektiv gegen Angriffe der Kapitalisten zu kämpfen und große Reformen zu erringen. „Die Kolleginnen und Kollegen sind dazu nicht bereit.“ „Wenn wir das fordern, dann bindet uns die Politik mit schärferen Gesetzen noch mehr die Hände“, so und ähnlich schallt es uns immer wieder entgegen.
Neues Recht wurde durch Rechtsbruch erkämpft
Um sich aus der Falle von Totschlagsargumenten zu befreien, ist ein Blick auf die Geschichte der Arbeiterbewegung hilfreich. Sozialer Fortschritt und demokratische Rechte sind weder vom Himmel gefallen noch gnädiger Weise von den Herrschenden gewährt worden. Neues Recht musste immer wieder durch Verletzung des alten Rechts und Durchbrechen der rechtlichen Fesseln erkämpft werden. Hätten sich die Pioniere der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert und die Akteure in den Revolutionsjahren ab 1918 ausschließlich an die vorgegebene bürgerliche Legalität gehalten, dann wären die inzwischen erreichten Zugeständnisse nie möglich gewesen.
Nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland schrieben mutige arbeitende Menschen Geschichte mit Streiks, die den Rahmen legaler Tarifkämpfe sprengten. Die Generalstreiks der Jahre 1920, 1923 und 1948 waren eindrucksvolle Höhepunkte des Klassenkampfs und Ausdruck von Willen und Entschlossenheit (siehe Kasten). Sie widerlegen die spöttische Behauptung, dass deutsche Arbeiter vor der Besetzung eines Bahnhofs zuerst eine Bahnsteigkarte ziehen. Geschichte schrieben auch beherzte Belegschaften, die entgegen bürgerlicher „Spielregeln“ spontan die Arbeit niederlegten und damit vermeintlich „illegale“ Streiks führten – für soziale und politische Ziele. Obwohl politische Streiks nach einem Gerichtsurteil von 1952 überwiegend als illegitim betrachtet werden, gab es in der alten Bundesrepublik etliche politische Streiks.
1968 streikten viele Belegschaften gegen die Notstandsgesetze, obwohl die Führung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) dies unterbinden wollte. Als im April 1972 CDU und CSU den SPD-Kanzler Willy Brandt mit einem Misstrauensvotum im Bundestag stürzen wollte, streikten etwa 100.000 Beamte, Angestellte und Arbeiter dagegen. In vielen Städten kam es zu Demonstrationen und Kundgebungen während der Arbeitszeit. Dies war ein bewusster Regelverstoß, der schon durch die politische Brisanz und die Masse der Beteiligten juristisch ohne Folgen blieb. Jeder Versuch, die Streikenden hinterher wegen vermeintlich „illegaler“ politischer Streiks vor Gericht zu zerren und mit Schadensersatzforderungen zu ruinieren, hätte massenhaft Öl ins Feuer gegossen. Letzten Endes sind Rechtsfragen immer auch Machtfragen und Ausdruck eines realen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen.
Nach dem Anschluss der DDR an die BRD vollzog die Treuhandanstalt ab 1991 im Osten einen beispiellosen Kahlschlag an vielen Industriestandorten. Dies löste Streiks und Besetzungen aus, die heute in vielen Medien ausgeblendet werden. Auch in der Endphase der Regierung des CDU-Kanzlers Kohl provozierte der soziale Kahlschlag ab 1996 massive betriebliche Proteste. Gegen ein Gesetz zur Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gab es zahlreiche Streikaktionen. 1997 legten über 10.000 Bergarbeiter aus Steinkohlezechen spontan die Arbeit nieder und besetzten das damalige Bonner Regierungsviertel. Auslöser waren Pläne des FDP-Wirtschaftsministers zur Kürzung der vereinbarten Kohlesubventionen. 2007 beteiligten sich viele Beschäftigte an „Protesten während der Arbeitszeit“ gegen die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre. Alle aufgeführten Beispiele zeigen, dass wirkungsvolle Streiks für politische Ziele durchaus möglich sind.
Befristeter und unbefristeter Generalstreik
Die Herrschenden wollen seit jeher die arbeitende Klasse spalten, um sie besser zu beherrschen. Doch die Erfahrung im Kapitalismus zwingt zum gemeinsamen Kampf und wird uns früher oder später zusammenschweißen.
„Der Generalstreik wird nur möglich, wenn der Klassenkampf über alle korporativen Sonderinteressen hinausgeht, allen Berufs- und Wohngebietsscheidungen zum Trotz sich ausdehnt, die Grenzen zwischen Parteien und Gewerkschaften, zwischen dem Gesetzlichen und dem Ungesetzlichen verwischt, die Mehrheit des Proletariats mobilisiert und es aktiv der Bourgeoisie und dem Staat gegenüberstellt“, brachte es Leo Trotzki 1934 in der Schrift „Wohin geht Frankreich?“ auf den Punkt.
Ein zeitlich befristeter und gut organisierter Generalstreik mit klaren Forderungen und Perspektiven kann als Warnschuss an Kapital und Regierung dienen und uns der eigenen Stärke bewusst machen. Er kann zeigen, dass ohne die Arbeiterklasse keine Glühbirne brennt und kein Rad sich bewegt. Er kann bei guter Führung, Beteiligung und Entschlossenheit auch Zugeständnisse erzwingen. Er löst aber noch nicht die Frage, welche Klasse sich in der Gesellschaft durchsetzt. Ein 24-stündiger Generalstreik wäre für die deutsche Arbeiterklasse ein riesiger Fortschritt.
Südeuropa jedoch hat schon viele befristete Generalstreiks erlebt, die von den Gewerkschaftsspitzen ausgerufen wurden, um „Dampf abzulassen“. So legte die griechische Arbeiterklasse in den letzten zehn Jahren in gut 30 befristeten Generalstreiks eine beispiellose Kampfbereitschaft an den Tag. Diese verpuffte, weil es keine weitergehende Perspektive gab und die von der Arbeiterklasse 2015 an die Macht gespülte Linkspartei Syriza dem Druck des in- und ausländischen Kapitals nachgab.
Ein unbefristeter Generalstreik erfordert weitergehende Perspektiven. „Die wesentliche Bedeutung des Generalstreiks, unabhängig von den Teilerfolgen, die er haben, aber auch nicht haben kann, liegt darin, dass er revolutionär die Machtfrage stellt. Indem das Proletariat die Fabriken, den Transport, alle Verkehrsmittel überhaupt, die Elektrizitätswerke usw. stillegt, lähmt es damit nicht nur die Produktion, sondern auch die Regierung. Die Staatsgewalt hängt in der Luft. Sie muss entweder das Proletariat durch Hunger und Gewalt zähmen, es so zwingen, den bürgerlichen Staatsapparat wieder in Gang zu setzen, oder aber dem Proletariat Platz machen.“ (Trotzki)
Die Geschichte zeigt, dass unbefristete Generalstreiks in aller Regel spontan und nicht auf Geheiß von Gewerkschafts- oder Parteivorständen ausbrechen. Dies wusste auch Rosa Luxemburg, die es nicht bei der Bewunderung spontaner Massenkämpfe beließ, sondern die hohe Verantwortung der politischen Führung der Arbeiterbewegung betonte: „Die Äußerungen des Massenwillens im politischen Kampfe lassen sich nämlich nicht künstlich auf die Dauer auf einer und derselben Höhe erhalten, in eine und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, sich zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion muß vorwärtskommen. Und gebricht es der leitenden Partei im gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet, und die Aktion bricht in sich zusammen.“ (Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften)
Generalstreiks in Deutschland: 1920, 1923, 1948
Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung kennt drei große Generalstreiks. Im März 1920 beendete ein spontaner Generalstreik von Arbeitern, Angestellten und Beamten den Versuch reaktionärer Militärs, mit dem sogenannten „Kapp-Putsch“ eine Militärdiktatur zu errichten. Die Putschisten gaben nach wenigen Tagen auf. Auf dem Höhepunkt der Inflation im August 1923 zwang ein spontaner Generalstreik die verhasste Reichsregierung unter Wilhelm Cuno zum Rücktritt.
Auch nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus zeigte die Arbeiterklasse wieder Stärke und Entschlossenheit. Unter dem Druck der Basis riefen die Gewerkschaften für den 12. November 1948 in der britischen und amerikanischen Zone (Bizone) zu einem eintägigen Generalstreik auf. Hintergrund: Nach der Währungsreform vom Sommer 1948 untergruben horrende Preissteigerungen und ein Lohnstopp den sehr geringen Lebensstandard der Arbeiterklasse. Zu den Hauptforderungen gehörten:
- Rücknahme der Begünstigung der Sachwertbesitzer durch die Währungsreform und Lastenausgleich zugunsten der Lohnempfänger,
- Bekämpfung des Preiswuchers,
- Planung und Lenkung der Wirtschaft,
- Überführung der Grundstoffindustrien und Banken in die Gemeinwirtschaft
- Demokratisierung der Wirtschaft und gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften an allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung.
Die Resonanz war überwältigend. Von 11,7 Millionen Beschäftigten in der Bizone streikten 9,25 Millionen. Eindeutiger hätte die Demonstration der Kampfbereitschaft kaum ausfallen können. Allerdings hatte die Gewerkschaftsführung vorab mit den Besatzungsbehörden vereinbart, dass am Streiktag selbst keine Demos stattfinden sollten. Hintergrund: Bei einer Demo in Stuttgart waren Steine gegen Autos und Schaufenster von Luxusgeschäften geflogen. Vielleicht war dies eine Tat von Provokateuren. So wurde der 12. November 1948 zum politischen Demonstrationsstreik ohne Demonstrationen.