Der Beitritt der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes jährt sich zum 30. Mal. Mit dem 3. Oktober 1990 hörte die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – und damit ein nicht-kapitalistisches Gesellschaftssystem auf deutschem Boden – auf zu existieren. Bürgerliche Gesellschaftswissenschaftler und Ökonomen arbeiten seitdem beständig daran, die angebliche Erfolgsgeschichte „Deutsche Wiedervereinigung“ auszuschmücken.
Was hierbei jedoch oftmals ausgespart wird, sind die tiefen Einschnitte, welche zur harten Realität für Millionen von ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürger wurden. Der Prozess, welcher u.a. von der ehemaligen DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft als „die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten“ (Luft 2019: 17) bezeichnet wird, hinterließ klaffende Risse im sozialen Gefüge Ostdeutschlands, die von den Betroffenen bis heute keineswegs verwunden sind. Im Ergebnis finden wir eine zu tiefst gekränkte und bis heute verunsicherte arbeitende Klasse, die sich doppelt – zuerst vom so genannten „Realen Sozialismus“, dann vom Kapitalismus – betrogen fühlt.
Die DDR zeichnete sich durch bürokratische Ineffizienz aus und war von einer Arbeiterdemokratie im Sinne des revolutionären Marxismus um Lichtjahre entfernt. Hiermit war sie keine Ausnahme unter den stalinistischen Systemen Mittel- sowie Osteuropas. Ihre Elite aus Apparatschiks und Opportunisten sicherte sich zahlreiche Privilegien, von welchen die Werktätigen nur träumen konnten. Mit der Wiedervereinigung hatte die alte Führung oftmals keine Skrupel, den Sozialismus zu verunglimpfen. Sie wurde jedoch sofort zu den alleinigen Verantwortlichen für die Vernichtung des „Industriestandorts Ostdeutschland“ erklärt.
Schon in den 30er Jahren war dem von Stalin verfolgten russische Revolutionär Leo Trotzki klar, dass die Revolution in der Sowjetunion früher oder später dem Untergang geweiht sein würde, wenn die herrschende bürokratische Kaste nicht aus ihren Amtsstuben vertrieben wird. Ein Sieg der kapitalistischen Konterrevolution wäre sonst unvermeidlich, so seine Prognose. Die im Zuge des Zweiten Weltkriegs entstandenen und von Moskau zutiefst abhängigen nicht-kapitalistischen Staaten Mittel-und Osteuropas waren hiervon nicht ausgenommen. Aus marxistischer Sicht war und ist der Prozess der Restauration des Kapitalismus in einem stalinistisch deformierten Arbeiterstaat ein historischer Rückschritt. Dementsprechend wollen wir näher betrachten, was sich in Ostdeutschland vollzogen hat.
Anfang vom Ende
In der UdSSR begann der seit 1985 amtierende KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow, unter den Schlagworten Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umbau) erste Elemente der kapitalistischen Marktwirtschaft einzuführen. Demgegenüber begegnete die greise Führung der SED diesem Vorhaben zunächst skeptisch. Die Ereignisse Ende der 80er Jahre brachen jedoch auch ihren Widerstand gegen eine Umgestaltung. Nachdem die Oppositionsbewegung in der DDR im Zuge nachgewiesener Fälschungen bei den Kommunalwahlen 1989 enormen Zulauf erfuhr und sich entgegen eines weitverbreiteten Mythos zu großen Teilen für eine eigenständige und demokratisch-sozialistische DDR statt der Wiedervereinigung mit dem Westen einsetzte, wurde ein Großteil der alten Führungsriege bis Ende des Jahres aufs Altenteil geschickt. So auch der langjährige SED-Generalsekretär Erich Honecker, der im Oktober 1989 gezwungenermaßen seinen Rücktritt verkünden musste. Die SED hatte das Vertrauen der DDR-Bevölkerung verspielt. Hieran konnte auch das „junge“ Gesicht des damals 52-jährigen ehemaligen FDJ-Chefs Egon Krenz nichts ändern, der nun an die Staats-und Parteispitze aufrückte. Die trotz des Mauerfalls am 9. November zunehmende Kritik – auch aus Reihen der SED – nötigte das Politbüro letztlich am 3. Dezember zum geschlossenen Rücktritt.
Im folgenden geschichtsträchtigen Jahr 1990 wurde schließlich zum Sprint Richtung Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf kapitalistischer Grundlage angesetzt, für welchen sowohl die Regierung der DDR als auch der Bundesrepublik verantwortlich zeichneten.
Die Geburt der Treuhandanstalt (THA)
Nachdem sich Akteure der Protestbewegung der DDR, aber auch ranghohe Mitglieder der SED seit 1989 für eine Reform der DDR-Wirtschaft stark machten, wurden die Grundlagen hierfür von der Allparteienregierung unter Hans Modrow (SED-PDS) geschaffen, welche nach der Aufnahme von Oppositionsrepräsentanten im Winter 1989-90 als „Regierung der nationalen Verantwortung“ bekannt wurde. Per Regierungsverordnung entstand im März eine Ur-Treuhandanstalt (UrTHA), welche von unterschiedlichen Motiven getrieben zur Liquidatorin der staatlichen Planwirtschaft wurde. Während einige der alten SED-Mitglieder in ihr eine Chance zum Erhalt möglichst vieler planwirtschaftlicher Elemente sahen, wollten besonders Mitglieder der Bürgerbewegung durch sie verhindern, dass erstere sich unrechtmäßig am Volksvermögen bereicherten.
Beiden Seiten war jedoch gemeinsam, dass sie eigentlich einen übermäßigen Zugriff durch westdeutsche Unternehmen verhindern wollten. Dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt war, sollte sich bald in aller Härte zeigen. Die UrTHA stand von Beginn an im Kreuzfeuer der Kritik und schaffte es nicht, das ihr auferlegte Ziel – die Umwandlung „Volkseigener Betriebe“ (VEB) in Kapitalgesellschaften – zufriedenstellend zu erfüllen. Wenngleich mit ihr die Grundlagen zum Ausverkauf des staatlichen Vermögens geschaffen wurden, so wurden sie schließlich von der seit April 1990 amtierenden Regierung unter Lothar de Maizière (CDU) in Gesetzesform gegossen. Am 17. Juni verabschiedete die Volkskammer der DDR das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens, besser bekannt unter dem Namen Treuhandgesetz (TreuhG). Die Hauptaufgabe der nun entstandenen Treuhandanstalt (THA) lautete fortan, „die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so rasch und so weit wie möglich zurückzuführen“ (Eingangsformel TreuhG). Von der Sicherung des volkseigenen Vermögens war keine Rede mehr. Vielmehr kann hierin der Versuch gesehen werden, den Schaden, der in Ostdeutschland entstehen sollte, aus der Verantwortlichkeit der neuen, auf den westdeutschen Kapitalismus orientierten Regierung zu nehmen.
Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen DDR und BRD vom 1. Juli 1990 führte schließlich zum Crash der DDR-Wirtschaft. Neben der plötzlichen Einbindung in den Weltmarkt war ein weiterer Grund hierfür die eilige Einführung der heißbegehrten Deutschen Mark (DM), welche in erster Linie als Wahlkampfmanöver der damaligen CDU/CSU/FDP-Regierung Kohl in der BRD gewertet werden muss. Allerdings wurden mit der Einführung der DM auch die Produktionskosten in der DDR um ein Vielfaches erhöht und erschien die westdeutsche Konkurrenz nun oftmals attraktiver. Gleichzeitig brachen die traditionellen Absatzmärkte ostdeutscher Produkte in Osteuropa und Zentralasien weg. Hier verlief die wirtschaftliche Transformation Richtung Kapitalismus ähnlich gravierend. Aus wirtschaftlicher Perspektive wurde der 1. Juli somit zum eigentlich bedeutenden Datum während der „Wiedervereinigung“. Der 3. Oktober brachte hauptsächlich den Wechsel von Dienstflaggen vor ostdeutschen Behörden und sollte rein symbolischer Natur sein – wohl auch um über die ökonomischen Brüche hinwegzutäuschen.
Die Privatisierung des volkseigenen Vermögens
Durch das Treuhandgesetz, welches mit dem Einigungsvertrag nahezu unverändert bundesdeutsches Recht wurde, wurde die THA für die Privatisierung von ca. 8.000 ostdeutschen Betrieben mit 45.000 Betriebsstätten und vier Millionen Werktätigen zuständig. Als Maximen erkor die dem Bundesfinanzministerium unterstellte Anstalt hierbei „Schnelle Privatisierung, entschlossene Sanierung, behutsame Stilllegung“, wobei der Privatisierung oberste Priorität zukommen sollte. Nachdem der erste Präsident Rainer Maria Gohlke nach nur kurzer Zeit zurücktrat, folgte ihm der Manager und SPD-Politiker Detlev Karsten Rohwedder im Amt nach. Rohwedder prägte das unternehmerische Selbstverständnis seiner Behörde und begann ihren massiven Ausbau. Innerhalb eines Jahres erhöhte sich die Zahl der Treuhand-Bediensteten von knapp über 100 auf mehr als 2.700. Bis Ende März 1990 wurden rund 1.200 Unternehmen privatisiert und 300 als „nicht sanierungsfähig“ eingestuft. Von den ursprünglich vier Millionen Arbeitsplätzen in THA-Betrieben waren zu diesem Zeitpunkt bereits über eine Millionen verschwunden. Obwohl sich die Zahl der erwerbsfähigen Personen in Ostdeutschland etwa durch Wegzug und Vorruhestandsregelungen verringerte, stieg die Arbeitslosenquote bis Ende des Jahres auf 10,3% (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 1992). Den ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeitern wurde erklärt, dass ihre Arbeit wertlos sei und dass sie mit der Effizienz ihrer westdeutschen Gegenparts nicht mithalten könnten. Ein klassischer Trick, um die arbeitende Klasse zu entzweien. Kein Wunder, dass diese Kränkung tiefe und bis heute nicht verheilte Wunden in der Identität vieler Ostdeutscher hinterließ.
Die Gewerkschaften zeigten sich unterdessen – gelinde gesagt – relativ unbeholfen. Während die Belegschaften in erster Linie für den Erhalt ihrer Betriebe kämpften und auch dazu bereit waren, massive Einbußen bezüglich der Arbeitsqualität zu hinzunehmen, galt es für den DGB und die damalige Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) zu allererst, im Interesse ihrer westdeutschen Mitglieder die Entstehung eines ostdeutschen Niedriglohnsektors zu verhindern. Bestrebungen der DAG, die Interessen der Angestellten gegen die der Arbeiterinnen und Arbeiter auszuspielen, blieben aufgrund des noch starken Klassenbewusstseins in Ostdeutschland größtenteils fruchtlos.
Die Toleranz gegenüber Arbeitskämpfen war zu diesem Zeitpunkt in der Gesellschaft noch relativ groß. So gab es bereits im März 1991 wieder viele Streiks und Massendemos gegen die Treuhandpolitik. Das sollte sich jedoch schlagartig ändern, als Rohwedder am 1. April 1991 in seiner Düsseldorfer Villa einem Attentat zum Opfer fiel, zu welchem sich eine „Rote Armee Fraktion“ (RAF) bekannte. Obwohl die Täter bis heute nicht identifiziert wurden, findet sich mit diesem Mord ein wichtiges Lehrstück gegen individuellen Terror. Rohwedder wurde in der bürgerlichen Öffentlichkeit zum Märtyrer des Neo-Liberalismus erklärt und die scharfe Kritik an der Arbeit der THA fast flächendeckend zurückgefahren. Die Gewerkschaften bliesen alle Proteste eiligst ab und gingen vollends in die Defensive. Nur zwei Wochen später räumten auch DAG und DGB in einer gemeinsamen Erklärung mit der THA ein, dass der Abbau von Arbeitsplätzen im Osten Deutschlands unvermeidlich sei.
Unter der neuen Präsidentin Birgit Breuel (CDU) – zuvor Finanzministerin des Landes Niedersachsen – verfolgte die THA eine neue Strategie. Ostdeutsche Betriebe wurden fortan zu noch billigeren Ramschpreisen verschachert und verscherbelt. Den Investoren, mehrheitlich westdeutsche Unternehmer, Glücksritter und Spekulanten, wurden die Betriebe mit Kusshand und unter großen Zugeständnissen hinterhergeworfen. Durch diese „Turboprivatisierungen“ konnte die Behörde bald Rekordzahlen vermelden. Bis zum Ende ihres Bestehens am 31. Dezember 1994 wurden durch die THA 30,6% der ehemaligen DDR-Betriebe geschlossen, 53,8% privatisiert, 13,1% an ihre ursprünglichen Besitzer übergeben und 2,6% kommunalisiert (vgl. Rödder 2009). Von den vier Millionen Arbeitsplätzen existierte nur noch die Hälfte (vgl. ebd.) und die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland kletterte auf 16,0% (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 1997). Die THA schloss ihre Bücher mit einem Defizit von 230 Milliarden DM (vgl. Rödder 2009). Ihre nicht bewältigten Aufgaben gingen ab 1995 in den Zuständigkeitsbereich der neu geschaffenen Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) über, die bis heute exisitiert.
„Bischofferode ist überall“
Während der wirtschaftlichen Umwandlung Ostdeutschlands gelangten die Auseinandersetzungen um den ehemaligen VEB Kaliwerk „Thomas Müntzer“ in Bischofferode (Nordthüringen) zu besonderer Prominenz. Zu DDR-Zeiten war das moderne Bergwerk ein wichtiger Devisenbringer. Der entschlossene Kampf der Belegschaft gegen die Vernichtung ihres Betriebs stand nun symbolisch für den Widerstand gegen die Privatisierungspolitik. Nach der Ausschaltung weiterer Interessenten entschied die THA, die Mitteldeutsche Kali AG (MdK), zu der auch das Bergwerk in Bischofferode gehörte, mit der westdeutschen Kali und Salz AG (K+S) fusionieren zu lassen. In seit 1992 laufenden Geheimverhandlungen sicherte die THA der K+S hierbei das deutschlandweite Monopol in der Kalisalzförderung zu und ließ ihr freie Hand bei der Stilllegung der Werke in Ostdeutschland. Bischofferode sollte auch betroffen sein. Trotz zahlreicher Solidaritätsbekundungen aus ganz Deutschland und Massenprotesten wurden die kämpferischen Bischofferoder Bergleute letztendlich ihrem eigenen Schicksal überlassen. Im Sommer des Jahres 1993 besetzten die Kumpel nach der Billigung der Fusion durch den Bundestag das Werk. Einige von ihnen begaben sich in einen minutiös von der Presse begleiteten Hungerstreik. Dies löste eine bundesweite Solidaritätsbewegung von unten aus.
Von der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) und westdeutschen Belegschaften im Stich gelassen, war der zwischenzeitlich auf rund 40 Hungerstreikende angewachsene Protest zum Scheitern verurteilt. Die Schließung war beschlossene Sache. Nachdem der Betriebsrat sich geschlagen gab, wurde am 22. Dezember 1993 das letzte Kalisalz in Bisschofferode gefördert. Am 31. Dezember wurde das Werk geschlossen. Das besonders in der Düngerproduktion benötigte Kalisalz unter Bischofferode wurde durch Flutung nutzlos gemacht. Sein Verkaufswert würde sich heute auf ca. 3,5 Milliarden EUR belaufen.
Die Traumatisierung einer Generation
Beispiele wie Bischofferode finden wir in der gesamten ehemaligen DDR. Von Sassnitz bis Chemnitz, von Wernigerode bis Frankfurt/Oder. Überall wurden traditionsreiche Industriebetriebe kaputt-geschrumpft, verschachert oder dem Erdboden gleichgemacht. Das neue kapitalistische System ließ ihnen keine Chance auf einen Neuanfang mit staatlichen Betrieben unter Arbeiterkontrolle und -verwaltung. Das Ergebnis: nahezu entvölkerte Landstriche und Arbeitslosigkeit. Die Menschen, welche im Zuge der Wiedervereinigung und Einführung des Kapitalismus ihre Beschäftigung verloren, wurden Opfer eines gnadenlosen Schlussverkaufs zu Gunsten des westdeutschen Kapitals. Statt der von Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ besteht insgesamt das Gefälle zwischen Ost und West auch nach 30 Jahren weiter.
Literaturverzeichnis
- Bundesanstalt fürArbeit (1992):Arbeitsmarkt 1991.Arbeitsmarktanalyse für die alten und die neuen Bundesländer. Nürnberg: Bundesanstalt für Arbeit.
- Bundesanstalt fürArbeit (1997):Arbeitsmarkt 1996.Arbeitsmarktanalyse für die alten und die neuen Bundesländer. Nürnberg: Bundesanstalt für Arbeit.
- Luft, C. (2019): Die Treuhand – die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.): Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung. 16 – 20.
- Rödder, A. (2009): Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München, C. H. Beck.