Isidore Ziferstein war ein kalifornischer Psychiater, der in den 1960er und 1970er Jahren Beobachtungsstudien im sowjetischen Psychiatriesystem durchführte. Sein wissenschaftlicher Artikel dazu unter dem Titel „Psychotherapy in the USSR“ (1976) beschreibt seine Erlebnisse im psychoneurologischen Bechterew-Forschungsinstitut in Leningrad. Zwei Fälle, über die Ziferstein berichtet, sind für den Vergleich mit Psychotherapie und Psychiatrie heute besonders interessant.
Die sowjetischen Psychiater spielten eine aktive Rolle in der Behandlung ihrer Patienten. Im ersten Fall wurde ein junger Fabrikarbeiter behandelt. Über die Behandlung stellten der Therapeut und der Patient gemeinsam fest, dass ihn die Arbeit in der Fabrik nicht genug forderte und ihm keine Erfolgserlebnisse bot. Die Schlussfolgerung war, dass diese Arbeitssituation stark zum psychischen Leiden des Patienten beitrug. Gleichzeitig war der Behandler überzeugt, dass der Patient mehr Erfüllung in der Arbeit eines Ingenieurs finden würde. Zur Entlassung des Patienten stellte der Psychiater dem Patienten also ein Rezept aus, direkt adressiert an dessen Fabrikleiter, dass der junge Mann von seiner aktuellen Arbeit freizustellen und ihm die Weiterbildung zum Ingenieur bei vollständiger Lohnfortzahlung zu finanzieren ist. Rezepte wie diese waren bindend für die Fabrikleitung.
Ein zentrales Element der sowjetischen psychiatrischen Behandlung war die Arbeitstherapie. Arbeitstherapie mag seltsam klingen, aber auch heute legen Psychiater und Psychotherapeuten Wert auf Therapie, in der Patienten die Gelegenheit haben, etwas zu erschaffen, sei es Kunst oder praktische Arbeit. Das sind im heutigen bürgerlichen Staat die oft psychiatrisch-ergänzend genutzte Ergotherapie und die Arbeitstherapie im Kontext von Langzeitkrankheit und Erwerbsminderungs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente. Hier werden sogenannte gemeinnützige Betriebe von den Krankenkassen oder der Rentenversicherung bezahlt, damit die Versicherten dort arbeiten dürfen, unabhängig der Tatsache, dass sie verkaufsfertig produzieren.
In sowjetischen Psychiatrien waren Werkstätten angegliedert, in denen Patienten nicht nur als eine Art Beschäftigungstherapie „vor sich hinarbeiten“. Einerseits wurden sie für ihre Arbeit bezahlt und andererseits hatten sie in diesen Werkstätten die Gelegenheit, neue Berufe und Felder zu erlernen. Sozial wichtige Arbeit zu tun und dafür entlohnt zu werden, wirkte nach Ansicht der sowjetischen Psychiater der Isolation entgegen, hielt die Patienten in Kontakt mit dem Alltagsleben und stärkte deren Selbstbewusstsein.
Ziferstein berichtet von einem zweiten Fall, einem anderen Patienten, der drei Monate in Krankenhausbehandlung war. Ihm war für seine Arbeitstherapie die Elektronikwerkstatt zugewiesen. Dort lernte er, medizinische Geräte zusammenzubauen und zu reparieren, die Nutzung in der Forschung fanden. Zu seiner Entlassung bat er darum, weiter in der Werkstatt arbeiten zu dürfen, um sich weiter auszubilden. Das wurde ihm gestattet und später gelang es ihm durch diese praktische Ausbildung, eine technische, gut bezahlte Arbeitsstelle zu bekommen. Ziferstein merkt an, dass sein Krankenhausaufenthalt für den Patienten keinerlei Stigma hatte. Er erzählte Ziferstein im Gespräch, dass er häufig bei Freunden und Nachbarn damit prahlte, im Bechterew-Institut einen hochangesehenen Beruf gelernt zu haben.
Die Planwirtschaft macht’s möglich
Was hier berichtet wird, geschah in der späten Sowjetunion, also im bereits degenerierten Arbeiterstaat, wo jede Bestrebung zur sozialistischen Weltrevolution aufgegeben worden war und die stalinistische Bürokratie die Arbeiterdemokratie verdrängt hatte. Dennoch zeigen sich markante Vorteile gegenüber heutigen Behandlungsansätzen. Heute in Deutschland können Ärzte oder Therapeuten lediglich empfehlen, die Arbeit zu wechseln, und womöglich den Patienten an Sozialarbeiter weiterleiten. Innerhalb des Arbeitsmarktes ist der Patient so oder so verpflichtet, selbst sein buchstäbliches Glück zu versuchen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
Dahingegen ist das beschriebene Beispiel aus Leningrad eine Behandlung auf materialistischer Grundlage. Die Arbeits- und damit Alltagsrealität des Patienten wird vollumfänglich und in gemeinsamer Verantwortung des Arztes und des Patienten in die Behandlung integriert. So ordnet der Arzt konkrete Maßnahmen an, an die sich die Fabrikleiter halten müssen. Neben psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung wird also praktisch auf die Lebensumstände des Patienten eingewirkt, um echte materielle Besserungen zu bringen. Das ist nur in einer Planwirtschaft möglich, denn im Kapitalismus zerschellen solche Ansätze an der diktatorischen Freiheit des Unternehmers. In einer Planwirtschaft hingegen greifen alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ineinander.
Für uns heute klingt das gar utopisch. Schon konzeptionell wirkt diese Art der Behandlung für uns heute unmöglich. Weil Therapeuten und Ärzte nur begrenzt Einfluss nehmen können auf die materiellen Umstände im Leben des Patienten, sind sie gezwungen, psychische Krankheit vom Arbeitsalltag zu trennen, obwohl es völlig logisch ist, dass die Arbeit einen massiven Einfluss auf das Leben von Arbeitern und Angestellten hat. Auch logisch ist, dass materielle Verbesserungen im Leben zur Besserung der psychischen Gesundheit führen. Im Kapitalismus ist die medizinische Behandlung, unabhängig jeder Motivation der individuellen Ärzte, stets durch das Profitmotiv geprägt. Institutionen wie Krankenhäuser werden teilweise privat betrieben und den Eigentümern geht es nicht um Genesung der Patienten, sondern um Gewinn. Selbst öffentlich betriebene Krankenhäuser müssen wirtschaften, da ihre Gelder begrenzt sind und Vorstände reich bezahlt werden im Vergleich zum Pflegepersonal, aber auch der unteren Ärzte und Therapeuten. Ganz zu schweigen von Problemen in den Rahmenbedingungen therapeutischer oder ärztlicher Praxen (z. B. der Kassenzulassung für Psychotherapeuten, die viele dazu zwingt, ihre Behandlung nur für Selbstzahler oder Privatpatienten anzubieten) kratzen diese Beschreibungen nur an der Oberfläche der im Kapitalismus begründeten Behandlungskrise.
In einer Planwirtschaft ist das Leitmotiv die Bedarfsdeckung. Es geht darum, Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, und jede Produktion geschieht zu diesem Zweck. Das gilt auch für die Medizin. Forschung kann sich konzentrieren auf bestmögliche Versorgung. Therapien haben nichts als die optimale Genesung zum Zweck. Die Umstände in den Leben der Menschen werden zum Besseren verändert und da das Sein das Bewusstsein bestimmt, mentale Gesundheit massiv fördern. Ohne Fetischisierung von Lohnarbeit oder „Hustle Culture“ verliert Krankheit und besonders mentale Krankheit ihr Stigma.
Kommunismus erkämpfen!
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