Im Februar sagte Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), im Interview mit Table.Media: „Wir brauchen eine Strategiedebatte über das Geschäftsmodell Deutschland. Das heißt auch eine Debatte über das Sozialmodell Deutschland. Und es ist eine Debatte über den politischen Wert Deutschlands in der Welt.“
Das letzte Mal, als so etwas nicht nur debattiert, sondern durch eine Bundesregierung im Interesse des Kapitals durchgesetzt wurde, hörte sich das so an: „Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen.“ So die Worte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) in einer Regierungserklärung am 14. März 2003.
Das dahinterstehende Programm, das die rot-grüne Regierung umsetzte, nannte sich Agenda 2010. In Schröders Worten: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Diese Konterreform drehte den Schraubstock der kapitalistischen Ausbeutung fester, um mehr Profit aus der Arbeiterklasse zu pressen.
Schere zwischen Arm und Reich weitet sich
Mittlerweile arbeitet die Hälfte aller Lohnabhängigen in prekärer Beschäftigung: Teilzeit, Minijob, Werkverträge, Leiharbeit, befristete Verträge, Scheinselbstständigkeit. Die Bosse steigern die Arbeitsverdichtung, den Druck und erweitern die Grenzen des Arbeitstags und -orts dank Digitalisierung. Jährlich macht die Arbeiterklasse Milliarden von Überstunden, von denen ein Großteil unbezahlt bleibt.
Dazu kommen Jahrzehnte stagnierender oder fallender Reallöhne durch Tarifflucht der Kapitalisten und durch schwache Tarifabschlüsse. Die anhaltende Inflation tut ihr Übriges dazu. Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband waren 2021 etwa 14,1 Millionen Menschen in Deutschland arm. Demgegenüber machen die Banken und Konzerne Rekordprofite (DAX: 2022 ca. 148 Milliarden Euro; 2021 ca. 141 Mrd. Euro) und schütten gewaltige Dividenden an die Aktionäre aus.
Kapital fordert: mehr und länger arbeiten
Doch die Kapitalistenklasse möchte knapp zwanzig Jahre nach der Agenda 2010 erneut in die Offensive gehen und die Ausbeutung erhöhen, um im internationalen Konkurrenzkampf der Konzerne die Profitabilität aufrechtzuerhalten. Das deutsche Kapital ist abhängig vom Export und davon, die Konkurrenz zu unterbieten. Dafür setzt es auf Intensivierung der Arbeit und die Verlängerung des Arbeitstags.
Stefan Wolf, Präsident des Gesamtverbands der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie, sagte 2020 in einem Interview mit aktiv-online, dass es jetzt „dringend so etwas wie eine Agenda 2030“ brauche. Die Unternehmerverbände fordern von der Regierung, die „Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland“ zu stärken – sprich die Ausbeutungsbedingungen zu verbessern und ihre Gewinne zu steigern.
Teil einer solchen Agenda müssten aus der Sicht des Kapitals neue Arbeitszeitregeln sein. „Starre tägliche Höchstarbeitsgrenzen passen einfach nicht mehr zu den Anforderungen einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft“, meint der Gesamtmetall-Präsident. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit mag ansprechend klingen, bedeutet aber meist eine Verlängerung der Arbeitszeiten durch die Hintertür. Hinzu kommen mehr befristete Beschäftigungen, was für die Betroffenen enorme Unsicherheit bedeutet.
Außerdem fordert die Kapitalistenklasse das Rentenalter zu erhöhen, um die Arbeiterklasse über noch längere Zeit auszupressen. Steffen Kampeter sagt: „Die Rente mit 63 – die können wir uns nicht leisten.“ Aus seiner Sicht ist die abschlagsfreie Frührente eine „offenkundige Fehlleistung der Politik“, die abgeschafft gehört.
Abschlagsfrei bedeutet, dass man bereits mindestens 45 Jahre für den Profit des Kapitals ausgebeutet wurde. Ohnehin ist für alle, die nach 1964 geboren wurden, die Frührente erst ab 65 Jahren möglich. Worum es in der Frage geht, ist also das Renteneintrittsalter grundsätzlich anzuheben. Aber für viele ist es schier unmöglich so lange zu arbeiten, weil die Arbeit zu belastend ist.
Profite privatisieren, Schulden sozialisieren
Die Profite der Kapitalistenklasse kommen aus der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Aber das Kapital wird auch durch den Staat unterstützt. Dieser dient dem Kapital als zentrales Werkzeug, um ihre Profitinteressen zu schützen und das System aufrechtzuerhalten. So erhalten die Banken und Konzerne billiges Geld seit der Krise von 2008 durch ständig fortgeführte staatliche Rettungsmaßnahmen.
Die Staatsverschuldung ist allein seit Beginn der Pandemie um über 460 Mrd. Euro gestiegen und liegt bei über 2,4 Billionen Euro. Dazu kommen die schuldenfinanzierten Sondervermögen für die Bundeswehr (100 Mrd. Euro) und der sogenannte Doppel-Wumms (200 Mrd. Euro), die als Schattenhaushalte gar nicht in der offiziellen Verschuldung auftauchen.
In Zeiten der Energiekrise, die von der deutschen Kapitalistenklasse mitverschuldet ist, fordern die Unternehmen Subventionen für die gestiegenen Energiepreise, die ihnen die Bundesregierung mit dem Doppel-Wumms bereitstellt. Zusätzlich zu dieser bestehenden Energiepreisbremse hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) angekündigt, im ersten Halbjahr Vorschläge für einen staatlich subventionierten Industriestrompreis vorzulegen.
Gleichzeitig aber möchte das Kapital möglichst wenig an Steuern und Abgaben sowie in die Sozialversicherungen zahlen (Stichwort Lohnnebenkosten senken), um ihre Profite zu steigern. Steuer- und Abgabensenkungen sowie erhöhte staatliche Subventionen für Unternehmen laufen darauf hinaus, dass erneut an anderen Stellen in den Staatshaushalten gekürzt werden wird.
Erneute Spar- und Kürzungswelle
In der Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP vertritt Finanzminister Christian Lindner (FDP) in dieser Frage am energischsten die objektiven Interessen des Kapitals. Er verlangt, die Schwarze Null einzuhalten und die Schulden aus den Unternehmensrettungen auf Kosten der Arbeiterklasse abzubauen: „Wenn man dann noch zusätzliche Ausgabenschwerpunkte setzen will, zum Beispiel bei Verteidigung oder Bildung, dann muss man umso mehr woanders kürzen.“
Im Bundeshaushalt 2023 sind für das Gesundheitsministerium gerade einmal 24,5 Mrd. Euro eingeplant, nur halb so viel wie 2021 ausgegeben wurde oder nur knapp ein Drittel des Budgets für 2022. Beim Bundesministerium für Bildung und Forschung stagniert das Budget mit 21,5 Mrd. Euro. Zudem hat sich die Ampel den Klimaschutz auf die Fahne geschrieben. Doch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz erhält lediglich eine Aufstockung auf läppische 14,6 Mrd. Euro.
Vom Fortschrittsversprechen der Ampel bleibt nichts übrig, denn auch in allen anderen Bereichen stagnieren oder sinken die Budgets. Nur in den folgenden zwei Bereichen fallen deutliche Erhöhungen auf: Für die Tilgung der Bundesschuld sind dieses Jahr 42,2 Mrd. Euro vorgesehen. Für das Verteidigungsministerium 50,1 Mrd. Euro und zusätzlich steht das 100 Mrd. Euro Sondervermögen zur Verfügung, um die Bundeswehr aufzurüsten.
Die Abzahlung der Schulden sowie die Aufrüstung gehen zu Lasten all dessen, was den sozialen Lohn darstellt – öffentliche Bildung und Gesundheit, soziale Dienste, kulturelle Einrichtungen etc. Die Bundesregierung trimmt das medizinische System auf Profit, spart an der Bildung und an sozialen Einrichtungen. Kulturelle Einrichtungen werden teurer, die Infrastruktur marode. Im öffentlichen Dienst, bei Post und Bahn, in den Krankenhäusern usw. mangelt es an Fachkräften. Das wird umso stärker zum Tragen kommen je weiter die Europäische Zentralbank – im trügerischen Versuch die Inflation aufzuhalten – die Leitzinsen anhebt oder auf hohem Niveau verbleiben lässt.
Die Last wird erdrückend
„Mehr Bock auf Arbeit“ und „wir brauchen Leistung“ – O-Ton des BDA-Chefs Kampeter – heißt letztlich: noch mehr Ausbeutung für den Profit der Kapitalisten. Die Inflation, die steigende Ausbeutung am Arbeitsplatz sowie die Spar- und Rüstungspolitik verschieben einen immer größeren Teil des von der Arbeiterklasse erzeugten Reichtums in die Taschen der Großaktionäre, Bänker und Finanzmogule. Der Kapitalismus spielt heute nur noch eine zerstörerische Rolle für die Entwicklung der Menschheit. Die Kapitalistenklasse lebt parasitär von der täglichen Arbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Zukunft der Jugend. Und das spüren immer mehr Menschen.
Die Folgen der steigenden Ausbeutung, der zunehmenden kapitalistischen Krise und ihrer Auswüchse haben tiefe soziale und politische Konsequenzen. Im letzten Jahr sind die psychisch bedingten Fehltage am Arbeitsplatz deutlich angestiegen. Depressionen, chronische Erschöpfung und Ängste belasten immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter und gehören zu den häufigsten Krankschreibungsgründen. Auch die Alkoholsucht steigt bei Berufstätigen.
In einer Gallup-Umfrage hat sich herausgestellt, dass in Deutschland bereits 18 % aller Beschäftigten innerlich gekündigt haben. Weitere 69 % machen nur Dienst nach Vorschrift. Es gibt nur noch eine Minderheit von Lohnabhängigen, die in ihrem Job einen Sinn sehen – nur 14 % fühlen sich inspiriert. Deshalb denken 45 % der Beschäftigten darüber nach, den Arbeitsplatz zu wechseln. Bei den 18- bis 29-jährigen Berufstätigen ist das am stärksten ausgeprägt.
Sackgasse Kapitalismus
Umso mehr tritt der Wunsch nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung in den Vordergrund. So wären 38 % der Deutschen bereit, für eine Vier-Tage-Woche den Betrieb zu wechseln. In dieser Hinsicht sind Belehrungen von Andrea Nahles (SPD), Chefin der Bundesagentur für Arbeit, an die „jüngere Generation“ weltfremd: „Arbeit ist kein Ponyhof.“
Worum es wirklich geht, ist folgendes Problem: Da im Kapitalismus alles dem Profit unterworfen ist, können Wissenschaft und Forschung sowie die Kreativität und Fähigkeiten der Masse nicht für die Befriedigung der tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnisse eingesetzt werden. Arbeit gibt es nur dann, wenn sie für den Kapitalisten Profit abwirft.
Auf Grundlage der heutigen technologischen Entwicklung wäre es möglich, durch Automatisierung und Digitalisierung die Wochenarbeitszeit drastisch zu kürzen und die Arbeit bei Lohn- und Personalausgleich auf alle aufzuteilen. Durch die gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte ist es möglich, eine Gesellschaft zu schaffen, in der materieller Überfluss die Bedürfnisse aller befriedigen kann und wir gleichzeitig kontinuierlich mehr Freizeit zur Verfügung haben. So könnte sich jeder bei der Planung und Entwicklung der Gesellschaft bewusst einbringen.
Aber dem steht der Kapitalismus im Weg. Die Kapitalistenklasse investiert nur noch einen Bruchteil ihrer Profite in neue Maschinen, Fabriken und Infrastruktur. Die Produktivität der Arbeit stagniert seit mindestens einem Jahrzehnt. Statt die technologischen Möglichkeiten voll zu entfalten und immer mehr Arbeit durch Maschinen zu ersetzen sowie die verbleibende Arbeit unter allen aufzuteilen, setzen die Kapitalisten darauf, die Ausbeutung zu intensivieren.
Der Kapitalismus steckt in einer allumfassenden Krise und die Kapitalistenklasse sowie ihre Regierungen werden alles daransetzen, ihren Reichtum und ihre Profite mit allen Mitteln zu sichern. Für uns Lohnabhängige bedeutet dies weitere Entbehrungen, immer schlechtere Jobs, Massenarbeitslosigkeit und Existenzangst.
Doch wir haben die technischen Mittel, das wissenschaftliche Wissen und die Ressourcen, um die Bedürfnisse der Arbeiterklasse in Harmonie mit der Umwelt zu befriedigen. Statt prekärer und sinnloser Jobs, erzwungener Teilzeit und Arbeitslosigkeit könnten die Fähigkeiten, Talente und das Wissen der arbeitenden Menschen für sinnvolle und im Interesse der Allgemeinheit stehende Zwecke eingesetzt werden. Was uns im Weg steht, ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Die Wirtschaft ist in privater Hand und wird stets nur im privaten Profitinteresse eingesetzt.
Gegenoffensive ist gefordert
Es kommt jetzt darauf an, dass die DGB-Gewerkschaften in die Offensive gehen. Wir müssen für unsere Interessen kämpfen. Es reicht nicht, nur einen Verteidigungskampf gegen die ständigen Angriffe auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen zu führen. Dieses System führt geradewegs in die Barbarei, wenn es nicht überwunden wird.
In den Tarifkämpfen in diesem Jahr im öffentlichen Dienst, der Post, den Eisenbahngesellschaften und vielen anderen Branchen sehen wir, dass die Arbeiterklasse sich wieder zu bewegen beginnt. Doch noch sind diese Kämpfe reine Abwehrkämpfe, die Programme und Forderungen richten sich nur darauf, mit der Inflation schrittzuhalten. Und auch die Methoden und die Strategie der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführungen laufen darauf hinaus, dass diese Kämpfe nicht zusammengeführt werden.
Bei den Tarifauseinandersetzungen ist der Fokus auf vereinzelte, dezentrale Warnstreiks und sogenannte Schwerpunktstreiks gerichtet. Dann streikt nur ein kleiner Teil der organisierten Arbeiter in einem Sektor. Die wenigen Streikaktionen, bei denen zum Beispiel Beschäftigte im öffentlichen Dienst aus verschiedenen Bereichen zusammen gestreikt haben, zeigten aber, dass dies viel effektiver und ermutigender ist. Flächendeckende Streiks heizen der herrschenden Klasse ein und die Solidarität und Kampfkraft der Arbeiterklasse wird deutlich gestärkt.
Deshalb braucht es in den kommenden Kämpfen nicht nur vereinzelte oder parallele Streiks, sondern Vollstreiks. Es braucht Streiks, bei denen alle organisierten Arbeiter eines Sektors gleichzeitig streiken, das würde auch die nichtorganisierten Kollegen und Kolleginnen in den Kampf und die Gewerkschaften ziehen. Je größer der Streik, desto größer wird der Erfolg des Kampfes sein.
Doch offensive Methoden allein reichen nicht aus, es braucht ein offensives Programm. Deshalb setzen wir uns für ein sozialistisches Programm in der Gewerkschaftsbewegung ein. Die DGB-Gewerkschaften sollen wieder Klassenkampforganisationen der Arbeiterklasse sein.
Die IG Metall fordert die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich in der Stahlindustrie. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Diese Forderung sollten alle DGB-Gewerkschaften aufgreifen und daraus ein allgemeines Programm machen: Kurze Vollzeit für alle – Vier-Tage-Woche und Fünf-Stunden-Tag bei Lohn- und Personalausgleich für alle Branchen und Betriebe! Für die Absenkung des Rentenalters auf 60 Jahre!
Die technologischen Mittel dazu haben wir und auch das Geld ist da, wir müssen es nur bei der Kapitalistenklasse holen. Schluss mit Sparpolitik, Aufrüstung und Militarismus, Banken- und Unternehmensrettungen, die allesamt auf Kosten der Arbeiterklasse gehen.
Wofür wir kämpfen müssen, ist die Sozialisierung der Schlüsselindustrien, der Banken, der Konzerne sowie der Vermögen der Milliardäre und Millionäre. Die Wirtschaft muss unter der demokratischen Planung und Kontrolle der Arbeiterklasse stehen und nach einem sozialistischen Produktionsplan arbeiten. Nur im Sozialismus wird die Menschheit ihr volles Potential zu Entfaltung bringen können. Wir wollen mehr vom Leben!